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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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es schon damals so wenig wie heute, und die gut-guten bedeuteten eine so entrückte Aufgabe wie ein weit entfernter Sternnebel. Aber gerade an sie dachte Ulrich, während ihm alles andere, woran er scheinbar dachte, ganz gleichgültig war.
    Und er gab seinen Gedanken eine noch allgemeinere und unpersönlichere Form, indem er das Verhältnis, das zwischen den Forderungen «Tu!» und «Tu nicht!» besteht, an die Stelle von Gut und Böse setzte. Denn solange sich eine Moral – und das gilt ebenso für den Geist der Nächstenliebe wie für den einer Hunnenschar – im Aufstieg befindet, ist das «Tu nicht!» nur die Kehrseite und natürliche Folge des «Tu!»; das Tun und Lassen glüht, und was es an Fehlern einschließt, macht nicht viel aus, denn es sind die Fehler von Helden und Märtyrern. In diesem Zustand sind Gut und Böse gleich mit Glück und Unglück des ganzen Menschen. Sobald das Umstrittene jedoch zur Herrschaft gelangt ist, sich ausgebreitet hat und seine Erfüllung nicht mehr mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft ist, durchschreitet das Verhältnis zwischen Forderung und Verbot mit Notwendigkeit einen entscheidenden Zustand, wo nun die Pflicht nicht mehr jeden Tag neu und lebendig geboren wird, sondern, ausgelaugt und in Wenn und Aber zerlegt, zu mannigfaltigem Gebrauch bereitgehalten werden muß; und es beginnt damit ein Vorgang, in dessen weiterem Verlauf Tugend und Laster durch die Herkunft aus den gleichen Regeln, Gesetzen, Ausnahmen und Einschränkungen einander immer ähnlicher werden, bis schließlich jener wunderliche, aber im Grunde unerträgliche Selbstwiderspruch entsteht, von dem Ulrich ausgegangen war, daß der Unterschied zwischen Gut und Böse alle Bedeutung verliert gegenüber dem Wohlgefallen an einer reinen, tiefen und ursprünglichen Handlungsweise, das wie ein Funke ebensowohl aus erlaubten wie aus unerlaubten Geschehnissen hervorschlagen kann. Ja, wer sich unbefangen danach fragt, wird wahrscheinlich erkennen, daß der verbietende Teil der Moral stärker mit dieser Spannung geladen ist als der fordernde: Während es verhältnismäßig natürlich erscheint, daß bestimmte, als «böse» bezeichnete Handlungen nicht begangen werden dürfen oder, wenn man sie trotzdem begeht, wenigstens nicht begangen werden sollten, wie etwa die Aneignung fremden Eigentums oder die Schrankenlosigkeit im Genuß, sind die ihnen entsprechenden bejahenden Überlieferungen der Moral – in diesem Fall wäre das also die volle Hingabe des Schenkens oder die Lust, das Irdische abzutöten – fast schon verlorengegangen, und wo sie noch ausgeübt werden, sind sie das Geschäft von Narren und Grillenfängern oder bleichhäutigen Tugendbolden. Und in einem solchen Zustand, wo die Tugend bresthaft ist und das moralische Verhalten hauptsächlich in der Einschränkung des unmoralischen besteht, kann es wohl leicht so kommen, daß dieses nicht nur ursprünglicher und kraftvoller erscheint als jenes, sondern geradezu moralischer, sofern es erlaubt ist, dieses Wort nicht im Sinn von Recht und Gesetz, sondern als Maß aller Leidenschaft zu gebrauchen, die überhaupt noch durch Gewissensfragen erregt wird. Aber kann es wohl auch etwas Widerspruchvolleres geben, als das Böse innerlich zu begünstigen, weil man mit dem Rest an Seele, den man noch hat, das Gute sucht?!»
    Diesen Widerspruch hatte Ulrich noch nie so stark empfunden wie in dem Augenblick, wo ihn der ansteigende Bogen, den seine Überlegung durchmessen hatte, wieder auf Agathe zurückführte. Die in ihrer Natur liegende Bereitwilligkeit, sich einer – wenn er das flüchtige Wort noch einmal anwandte: – gut-bösen Ausdrucksform zu bedienen, was sich in dem Eingriff in das väterliche Testament gewichtig verkörpert hatte, verletzte die in seiner eigenen Natur liegende gleiche Bereitwilligkeit, die bloß eine gedankenmäßige Gestalt, man könnte sagen, die einer geradezu seelsorgerischen Teufelsbewunderung, angenommen hatte, während er als Person nicht nur schlecht und recht zu leben vermochte, sondern, wie er sah, darin auch nicht gern gestört sein wollte. Mit ebensoviel schwermütiger Befriedigung wie ironischer Klarheit stellte er fest, daß seine ganze theoretische Beschäftigung mit dem Bösen im Grunde darauf hinauslaufe, daß er die bösen Geschehnisse am liebsten gegen die bösen Menschen in Schutz nehmen möchte, die sich an sie heranmachen, und er fühlte plötzlich ein Verlangen nach Güte, so wie einer, der sich nutzlos in der Fremde

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