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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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erinnerte sich der leidenschaftlichen Frage seiner Schwester, ob er selbst das glaube, was er ihr erzähle, aber er konnte sie auch jetzt ebensowenig bejahen wie damals. Er gestand sich ein, daß er auf Agathe warte, um diese Frage zu beantworten.
    Da schrillte der Fernsprecher, und Walter, der am Apparat war, sprach plötzlich auf ihn ein, mit überstürzten Begründungen und in eilig zusammengerafften Worten. Ulrich hörte gleichgültig und bereitwillig zu, und als er den Hörer weglegte und sich aufrichtete, empfand er noch immer das Klingelzeichen, das nun endlich aufhörte; Tiefe und Dunkelheit strömten wohltuend in die Umgebung zurück, aber er hätte nicht zu sagen vermocht, ob das in Tönen oder Farben geschah, es war wie eine Tiefe aller Sinne. Lächelnd nahm er das Blatt Papier, auf dem er seiner Schwester zu schreiben begonnen hatte, und zerriß es, ehe er das Zimmer verließ, langsam in kleine Stücke.
    [◁]
19
    Vorwärts zu Moosbrugger
    Zur gleichen Zeit saßen Walter, Clarisse und der Prophet Meingast um eine Schüssel, die mit Radieschen, Mandarinen, Krachmandeln, Streichkäse und großen türkischen Dörrpflaumen gefüllt war, und verzehrten dieses köstliche und gesunde Abendbrot. Der Prophet trug über dem etwas dürren Oberkörper wieder nur seine Wolljacke und lobte von Zeit zu Zeit die natürlichen Genüsse, die ihm dargeboten wurden, indes Clarissens Bruder Siegmund in Hut und Handschuhen abseits des Tisches saß und von einer Rücksprache berichtete, deren er abermals mit Dr. Friedenthal, dem Assistenten der psychiatrischen Klinik, «gepflogen» hatte, um es seiner «völlig verrückten» Schwester zu ermöglichen, daß sie Moosbrugger sehe. «Friedenthal beharrt darauf, daß er es nur mit einer Erlaubnis des Landesgerichts möglich machen könne,» schloß er unbefangen «und beim Landesgericht begnügt man sich nicht mit der Eingabe des Fürsorgevereins ‹Letzte Stunde›, die ich euch beschafft habe, sondern verlangt eine Empfehlung der Gesandtschaft, da wir leider gelogen haben, Clarisse sei Ausländerin. Da hilft nun nichts anderes mehr: Dr. Meingast muß morgen zur Schweizer Gesandtschaft!»
    Siegmund sah seiner Schwester ähnlich, nur war sein Gesicht ausdrucksloser, obwohl er der ältere war. Wenn man die Geschwister nebeneinander betrachtete, wirkten Nase, Mund und Augen in Clarissens fahlem Gesicht wie Risse in einem trockenen Boden, während die gleichen Züge in Siegmunds Antlitz die Weichen, etwas verwischten Linien eines rasenbedeckten Geländes hatten, obwohl er bis auf ein Schnurrbärtchen glatt rasiert war. Die Bürgerlichkeit war von seinem Aussehen bei weitem nicht in dem gleichen Maß abgetragen worden wie von dem seiner Schwester und gab ihm eine ahnungslose Natürlichkeit auch in dem Augenblick, wo er so unverschämt über die kostbare Zeit eines Philosophen verfügte. Es würde niemand gewundert, haben, wenn darauf aus der Radieschenschüssel Blitz und Donner gebrochen wären; aber der große Mann nahm die Zumutung freundlich hin – was seine Bewunderer als ein äußerst anekdotisches Ereignis betrachteten – und nickte mit dem Auge wie ein Adler, der einen Sperling neben sich auf der Stange duldet.
    Immerhin bewirkte die plötzlich entstandene und nicht breit genug abgeleitete Spannung, daß Walter nicht länger an sich hielt. Er zog seinen Teller zurück, war rot wie ein Morgenwölkchen und behauptete mit Nachdruck, daß ein gesunder Mensch, wenn er nicht Arzt oder Wärter sei, in einem Irrenhaus nichts zu suchen habe. Auch ihm pflichtete der Meister mit einem kaum merklichen Nicken bei. Siegmund, der es sah und sich im Lauf des Lebens manches angeeignet hatte, ergänzte diese Zustimmung mit den hygienischen Worten: «Es ist zweifellos eine ekelhafte Angewohnheit des wohlhabenden Bürgertums, daß es in Geisteskranken und Verbrechern etwas Dämonisches sieht.» «Aber dann erklärt mir doch endlich,» rief Walter «warum ihr alle Clarisse behilflich sein wollt, etwas zu tun, das von euch nicht gebilligt wird und sie nur noch nervöser machen kann!?»
    Seine Gattin selbst würdigte das keiner Antwort. Sie machte ein unangenehmes Gesicht, vor dessen der Wirklichkeit fernem Ausdruck man Angst hätte fühlen können; zwei hochmütig lange Linien liefen darin längs der Nase hinab, und das Kinn zeigte eine harte Spitze. Siegmund glaubte weder verpflichtet noch ermächtigt zu sein, für die anderen das Wort zu führen. So trat auf Walters Frage eine kurze Stille ein,

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