Gesammelte Werke
bis Meingast leise und gleichmütig sagte: «Clarisse hat einen zu starken Eindruck erlitten, das darf man nicht auf sich beruhen lassen,»
«Wann?» fragte Walter laut.
«Unlängst; abends am Fenster.»
Walter wurde blaß, weil er der einzige war, der das erst jetzt erfuhr, während sich Clarisse offensichtlich Meingast anvertraut hatte und sogar ihrem Bruder. Aber so sei sie! dachte er.
Und obwohl es nicht unbedingt nötig gewesen wäre, hatte er plötzlich – über die Schüssel mit Grünzeug weg – das Gefühl, sie wären alle ungefähr um zehn Jahre jünger. Das war die Zeit, wo Meingast, noch der alte, unverwandelte Meingast, Abschied nahm und Clarisse sich für Walter entschied. Später hatte sie ihm gestanden, daß Meingast damals, obwohl er schon verzichtet hatte, sie doch noch manchmal geküßt und berührt hätte. Die Erinnerung war wie die große Bewegung einer Schaukel. Immer höher war Walter emporgehoben worden, und alles gelang ihm damals, wenn auch manche Tiefen dazwischen lagen. Und auch damals hatte Clarisse, wenn Meingast in der Nähe war, nicht mit Walter sprechen gekonnt; er mußte oft erst durch andere erfahren, was sie dachte und tat. In seiner Nähe wurde sie starr. «Wenn du mich anrührst, werde ich ganz starr!» hatte sie zu ihm gesagt. «Mein Körper wird ernst, das ist etwas anderes als mit Meingast!» Und als er sie zum erstenmal küßte, sagte sie zu ihm: «Ich habe Mama versprochen, so etwas nie zu tun!» Obwohl sie ihm später gestand, daß Meingast damals immer unter dem Speisetisch mit den Füßen heimlich ihre Füße berührt hätte. Das machte Walters Einfluß! Der Reichtum innerer Entwicklung, den er in ihr emporgerufen habe, hindere sie an der zwanglosen Bewegung, so erklärte er es sich. Und es fielen ihm die Briefe ein, die er damals mit Clarisse gewechselt hatte: er glaubte noch heute, daß sich ihnen an Leidenschaft und Eigenart nicht leicht etwas an die Seite stellen ließe, wenn man auch die ganze Literatur durchsuche. Er strafte in jenen stürmischen Zeiten Clarisse damit, daß er weglief, wenn sie Meingast erlaubte, bei ihr zu sein, und dann schrieb er ihr einen Brief; und sie schrieb ihm Briefe, worin sie ihn ihrer Treue versicherte und ihm aufrichtig mitteilte, daß sie von Meingast noch einmal durch den Strumpf aufs Knie geküßt worden sei. Walter hatte diese Briefe als Buch herausgeben wollen, und noch jetzt dachte er zuweilen, daß er es einmal doch tun werde. Leider war aber bisher nichts daraus entstanden als gleich zu Anfang ein folgenreiches Mißverständnis mit Clarissens Erzieherin: Zu der hatte nämlich Walter eines Tags gesagt: «Sie werden sehen, in kürzester Zeit mache ich alles gut!» Er hatte das in seinem Sinn gemeint und sich den großen Rechtfertigungserfolg vorgestellt, den er vor der Familie haben werde, sobald ihn die Herausgabe der «Briefe» berühmt mache; denn, genau genommen, war ja damals zwischen Clarisse und ihm manches nicht so, wie es sollte. Clarissens Erzieherin – ein Familienerbstück, das sein Ausgeding unter dem Ehrenvorwand erhielt, eine Art Zwischenmutter abzugeben – verstand das aber falsch und in ihrer Weise, wodurch alsbald in der Familie das Gerücht entstand, Walter wolle etwas tun, das es ihm ermögliche, um Clarissens Hand zu bitten; und als das einmal ausgesprochen war, entstanden daraus ganz eigentümliche Glücke und Zwänge. Das wirkliche Leben war sozusagen mit einem Schlag erwacht: Walters Vater erklärte, nicht länger für seinen Sohn sorgen zu wollen, wenn dieser nicht selbst etwas verdiene; Walters zukünftiger Schwiegervater ließ ihn ins Atelier bitten und sprach dort von den Schwierigkeiten und Enttäuschungen der reinen, nichts als heiligen Kunst, sei diese nun die bildende, Musik oder Dichtung; Walter selbst endlich und Clarisse juckte der mit einemmal leibhaft gewordene Gedanke an selbständige Wirtschaft, Kinder und öffentlich-gemeinsames Schlafzimmer wie ein Riß in der Haut, der nicht heilen kann, weil man unwillkürlich an ihm immer weiter kratzt. So geschah es, daß Walter wenige Wochen nach seinem vorangeeilten Ausspruch wirklich mit Clarisse verlobt wurde, was beide sehr glücklich machte, aber auch sehr aufgeregt, denn nun begann jenes Suchen nach einem bleibenden Ort im Leben, das dadurch alle Schwierigkeiten Europas auf sich lud, daß die von Walter in unbeständigem Irren gesuchte Stellung ja nicht nur durch das Einkommen bestimmt war, sondern auch durch die sechs sich ergebenden
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