Gesammelte Werke
Diotima hatte der unruhige Zustand, worin sich der Zurückgekehrte befand, ein Ende genommen; schon am nächsten Tag setzte sich Ulrich gegen Abend an seinen Schreibtisch, der ihm durch diese Handlung sogleich wieder vertraut wurde, und begann, Agathe einen Brief zu schreiben.
Es war ihm klar – so leicht und klar, wie es manchmal ein windstiller Tag ist, – daß ihr unüberlegtes Unternehmen äußerst gefährlich sei; noch mochte das, was geschehen war, nichts bedeuten als einen gewagten Scherz, der nur ihn und sie anging, aber das hing ganz davon ab, daß es rückgängig gemacht werde, ehe es Beziehungen zur Wirklichkeit gewinne, und mit jedem Tag wurde solche Gefahr größer. So weit hatte Ulrich geschrieben, als er sich unterbrach und zunächst Bedenken fühlte, einen Brief, der das unverschleiert erörterte, der Post zu übergeben. Er sagte sich, daß es wohl in jeder Weise angemessener wäre, er reiste selbst mit dem nächsten Zug an Stelle des Briefs; aber natürlich kam es ihm auch ungereimt vor, das zu tun, nachdem er sich doch der Angelegenheit tagelang überhaupt nicht angenommen hatte, und er wußte, daß er es unterlassen werde.
Er bemerkte, daß dem etwas zugrundelag, das beinahe so fest wie ein Beschluß war: er hatte Lust, es darauf ankommen zu lassen, was aus dem Zwischenfall entstehe. Die ihm aufgegebene Frage war also bloß die, wie weit er das wirklich und klar wollen könne, und es gingen ihm dabei allerhand weitläufige Gedanken durch den Kopf.
So machte er gleich anfangs die Wahrnehmung, daß er sich bisher noch allemal, wenn er sich «moralisch» verhielt, in einer schlechteren geistigen Lage befunden habe, als bei Handlungen oder Gedanken, die man üblicherweise «unmoralisch» nennen durfte. Es ist das eine allgemeine Erscheinung: denn in Geschehnissen, die sie in Gegensatz zu ihrer Umgebung bringen, entfalten alle ihre Kräfte, während sie sich dort, wo sie nur ihre Schuldigkeit tun, begreiflicherweise nicht anders verhalten, als beim Steuerzahlen; woraus es sich ergibt, daß alles Böse mit mehr oder weniger Phantasie und Leidenschaft vollbracht wird, wogegen sich das Gute durch eine unverkennbare Affektarmut und Kläglichkeit auszeichnet. Ulrich erinnerte sich, daß seine Schwester diese moralische Notlage sehr unbefangen durch die Frage ausgedrückt hatte, ob Gutsein denn nicht mehr gut sei. Daß es schwierig und atemraubend sein müßte, hatte sie behauptet und sich darüber gewundert, daß trotzdem moralische Menschen fast immer langweilig wären.
Er lächelte befriedigt und führte diesen Gedanken nun in der Weise weiter, daß Agathe und er sich gemeinsam in einem besonderen Gegensatz zu Hagauer befänden, den man ungefähr als den von Menschen, die auf eine gute Art schlecht seien, zu einem Manne bezeichnen könnte, der auf eine schlechte Art gut ist. Und wenn man von der großen Mitte des Lebens absieht, die billigermaßen von Menschen eingenommen wird, in deren Denken die allgemeinen Worte Gut und Bös überhaupt nicht mehr vorkommen, seit sie sich von ihrer Mutter Rock losgemacht haben, so bleiben die Randbreiten, wo es noch absichtlich moralische Anstrengungen gibt, heute wirklich solchen bösguten und gutbösen Menschen überlassen, von denen die einen das Gute niemals fliegen gesehn und singen gehört haben und darum von allen Mitmenschen verlangen, daß sie mit ihnen für eine Natur der Moral schwärmen sollen, in der ausgestopfte Vögel auf leblosen Bäumen sitzen; worauf dann die zweiten, die gut-bösen Sterblichen, gereizt von ihren Nebenbuhlern, mit Fleiß wenigstens in Gedanken eine Neigung für das Böse hervorkehren, als ob sie überzeugt wären, daß nur noch in bösen Taten, die nicht ganz so abgenutzt seien wie die guten, ein wenig moralischer Lebendigkeit zucke. Auf diese Weise hatte die Welt – natürlich ohne daß sich Ulrich dieser Voraussicht ganz bewußt gewesen wäre – also damals die Wahl, ob sie an ihrer lahmen Moral oder an ihren beweglichen Immoralisten zugrundegehen wolle, und weiß wohl bis zum heutigen Tag nicht, wofür sie sich schließlich mit überwältigendem Erfolg entschieden hat, es wäre denn, daß jene Zahlreichsten, die niemals Zeit haben, sich mit der Moral im allgemeinen zu befassen, dies einmal im besonderen getan hätten, weil sie das Vertrauen in den sie umgebenden Zustand verloren und in weiterer Folge dann freilich auch noch manches andere; denn bös-böse Menschen, die man so leicht für alles verantwortlich machen kann, gab
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