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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Rückwirkungen auf Clarisse, ihn, die Erotik, die Dichtung, die Musik und die Malerei. Eigentlich waren sie aus den verketteten Wirbeln, die an den Augenblick anknüpften, wo ihn angesichts der alten Mademoiselle die Gesprächigkeit übermannt hatte, erst vor kurzem erwacht, als er die Stellung im Denkmalamt annahm und mit Clarisse dieses bescheidene Haus bezog, wo das Schicksal sich nun weiter entscheiden mußte.
    Und im Grunde dachte Walter, es wäre recht annehmbar, wenn sich das Schicksal nun zufrieden gäbe; dann wäre das Ende zwar nicht gerade das, was der Anfang hatte sein wollen, aber die Äpfel fallen ja, wenn sie reif sind, auch nicht den Baum hinauf, sondern zur Erde.
    So dachte Walter, und währenddes schwebte über dem seinem Platz gegenüberliegenden Durchmesserende der bunten Schüssel mit gesunder Pflanzenkost der kleine Kopf seiner Gattin, und Clarisse war bemüht, so sachlich wie möglich, ja ebenso sachlich wie Meingast selbst, dessen Erklärung zu ergänzen. «Ich muß etwas tun, um den Eindruck zu zerkleinern; der Eindruck ist zu stark für mich gewesen, sagt Meingast» erläuterte sie und fügte aus eigenem hinzu: «Es ist ja auch gewiß nicht bloß Zufall, daß sich der Mann gerade unter meinem Fenster in die Büsche gestellt hat!»
    «Unsinn!» wehrte Walter das ab wie ein Schläfer eine Fliege: «Es war doch auch mein Fenster!»
    «Also unser Fenster!» verbesserte Clarisse, mit ihrem Lippenspaltlächeln, an dem bei dieser Anzüglichkeit nicht zu unterscheiden war, ob es Bitternis oder Hohn ausdrücke. «Wir haben ihn angezogen. Soll ich dir aber sagen, wie man das nennen kann, was – der Mann getan hat? Er hat Geschlechtslust gestohlen!»
    Walter tat das im Kopfweh: Der war dicht voll Vergangenheit, und die Gegenwart keilte sich ein, ohne daß der Unterschied zwischen Gegenwart und Vergangenheit überzeugend gewesen wäre. Da waren noch Büsche, die sich in Walters Kopf zu hellen Laubmassen schlossen, mit Radfahrwegen, die hindurchführten. Die Kühnheit langer Fahrten und Spaziergänge war wie heute am Morgen erlebt. Mädchenkleider schwangen wieder, die in jenen Jahren zum erstenmal verwegen den Fußknöchel freigegeben und den Saum weißer Unterröcke in der neuen sportlichen Bewegung schäumen gelassen hatten. Daß Walter damals glaubte, zwischen ihm und Clarisse sei manches «nicht so, wie es solle», war ja wohl eine sehr beschönigende Fassung gewesen, denn genau genommen, war bei diesen Radfahrten im Frühling ihres Verlobungsjahrs alles vorgefallen, wobei ein junges Mädchen gerade noch Jungfrau bleiben kann. «Fast unglaublich bei einem anständigen Mädchen» dachte Walter, während er sich mit Entzücken daran erinnerte. Clarisse hatte es: «Die Sünden Meingasts auf sich nehmen» genannt, der zu jener Zeit noch anders hieß und gerade ins Ausland gegangen war. «Es wäre jetzt eine Feigheit, nicht sinnlich zu sein, weil er es gewesen ist!» So erklärte es Clarisse und hatte verkündet: «Aber wir wollen es ja geistig!» Wohl hatte sich Walter zuweilen Sorge darüber gemacht, daß diese Vorgänge doch noch zu nahe mit dem erst vor kurzem Verschwundenen zusammenhingen, aber Clarisse erwiderte: «Wenn man etwas Großes will, wie doch zum Beispiel wir in der Kunst, dann ist es einem verboten, sich über anderes Sorge zu machen»; und so konnte sich Walter entsinnen, mit welchem Eifer sie die Vergangenheit vernichteten, indem sie sie in neuem Geist wiederholten, und mit wie großem Vergnügen sie die magische Fähigkeit entdeckten, unerlaubte körperliche Annehmlichkeiten dadurch zu entschuldigen, daß man ihnen eine überpersönliche Aufgabe zuspricht. Eigentlich habe Clarisse zu jener Zeit in der Lüsternheit die gleiche Art von Tatkraft entwickelt wie später in der Verweigerung, gestand sich Walter ein, und den Zusammenhang für einen Augenblick verlassend, sagte ihm ein widerspenstiger Gedanke, daß ihre Brüste heute noch genau so starr seien wie damals. Alle konnten es sehn, auch durch die Kleider. Meingast blickte sogar gerade auf die Brust hin; vielleicht wußte er es nicht. «Ihre Brüste sind stumm!» deklamierte Walter in sich so beziehungsreich, als wäre das ein Traum oder ein Gedicht; und beinahe ebenso drang durch die Polsterung des Gefühls währenddem auch die Gegenwart:
    «Sagen Sie doch, Clarisse, was Sie denken!» hörte er Meingast wie einen Arzt oder Lehrer Clarisse aufmuntern; aus irgendeinem Grund fiel der Zurückgekehrte zuweilen ins «Sie»

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