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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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zurück.
    Walter nahm ferner wahr, daß Clarisse Meingast fragend ansah.
    «Sie haben mir von einem Moosbrugger erzählt, daß er ein Zimmermann sei ...»
    Clarisse schaute.
    «Wer war noch ein Zimmermann? Der Erlöser! Haben Sie das denn nicht gesagt?! Sie haben mir doch sogar erzählt, daß Sie an irgendeine einflußreiche Person deswegen einen Brief geschrieben haben?»
    «Hört auf!» bat Walter heftig. Sein Kopf drehte sich innen. Er hatte aber kaum, seinen Unwillen ausgerufen, als ihm klar wurde, daß er auch von diesem Brief noch nie etwas gehört hätte, und schwach werdend fragte er: «Welch ein Brief ist das?!»
    Er erhielt von niemand eine Antwort. Meingast überging die Frage und sagte: «Es ist das eine der zeitgemäßesten Ideen. Wir sind nicht imstande, uns selbst zu befreien, daran kann kein Zweifel bestehn; wir nennen das Demokratie, aber diese ist bloß der politische Ausdruck für den seelischen Zustand des ‹Man kann so, aber auch anders›. Wir sind das Zeitalter des Stimmzettels. Wir bestimmen ja schon jedes Jahr unser sexuelles Ideal, die Schönheitskönigin, mit dem Stimmzettel, und daß wir die positive Wissenschaft zu unserem geistigen Ideal gemacht haben, heißt nichts anderes als den Stimmzettel den sogenannten Tatsachen in die Hand zu drücken, damit sie an unser Statt wählen. Das Zeitalter ist unphilosophisch und feig; es hat nicht den Mut zu entscheiden, was wert und was unwert ist, und Demokratie, auf das knappeste ausgedrückt, bedeutet: Tun, was geschieht! Nebenbei bemerkt, ist das ja einer der ehrlosesten Zirkelschlüsse, die es in der Geschichte unserer Rasse bisher gegeben hat.»
    Der Prophet hatte ärgerlich eine Nuß aufgebrochen und enthäutet und schob nun ihre Bruchstücke in den Mund. Niemand hatte ihn verstanden. Er unterbrach seine Rede zugunsten einer langsam kauenden Bewegung seiner Kinnbacken, an der auch die etwas aufgebogene Spitze der Nase teilnahm, während das übrige Gesicht asketisch reglos blieb, ließ aber den Blick nicht von Clarisse, der in der Gegend ihrer Brust aufruhte. Unwillkürlich verließen auch die Augen der beiden anderen Männer das Gesicht des Meisters und folgten diesem abwesenden Blick. Clarisse fühlte einen saugenden Zug, als könnte sie, wenn man sie noch lange anblickte, von diesen sechs Augen aus sich hinaus gehoben werden. Aber der Meister schluckte den letzten Rest der Nuß gewaltsam hinunter und setzte seine Belehrung fort:
    «Clarisse hat entdeckt, daß die christliche Legende den Erlöser einen Zimmermann sein läßt: stimmt nicht einmal ganz; nur seinen Ziehvater. Es stimmt natürlich auch nicht im geringsten, wenn Clarisse dann daraus, daß ein Verbrecher, der ihr auffällt, zufällig ein Zimmermann ist, einen Schluß ziehen will. Intellektuell ist das unter jeder Kritik. Moralisch ist es leichtfertig. Aber es ist mutig von ihr: das ist es!» Meingast machte eine Pause, um das hart gesprochene Wort «mutig» wirken zu lassen. Dann fuhr er wieder in Ruhe fort: «Sie hat unlängst, was uns andern auch widerfahren ist, einen exhibierenden Psychopathen gesehn; sie überschätzt das, überhaupt wird das Sexuelle heute durchaus überschätzt, aber Clarisse sagt: Es ist nicht Zufall, daß dieser Mann unter mein Fenster kam, – und das wollen wir jetzt recht verstehn! Es ist ja falsch, denn kausal bleibt das Zusammentreffen natürlich ein Zufall. Trotzdem sagt sich Clarisse: Wenn ich alles als erklärt ansehe, so wird der Mensch niemals etwas an der Welt ändern. Sie betrachtet es als unerklärlich, daß ein Mörder, der, wenn ich nicht irre, Moosbrugger heißt, gerade ein Zimmermann sei; sie betrachtet es als unerklärlich, daß sich ein unbekannter Kranker, der an sexuellen Störungen leidet, gerade unter ihrem Fenster aufstellt; und so hat sie sich angewöhnt, auch manches andere, das ihr begegnet, als unerklärlich zu betrachten, und –» wieder ließ Meingast seine Zuhörer einen Augenblick warten; seine Stimme hatte zuletzt an die Bewegungen eines entschlossenen Mannes erinnert, der mit äußerster Vorsicht auf den Zehenspitzen daherkommt, nun aber griff dieser Mann zu: «Und sie wird darum etwas tun!» erklärte Meingast mit Festigkeit.
    Clarisse wurde es kalt.
    «Ich wiederhole,» sagte Meingast «daß man das nicht intellektuell kritisieren darf. Aber die Intellektualität ist, wie wir wissen, nur der Ausdruck oder das Werkzeug eines ausgetrockneten Lebens; dagegen kommt das, was Clarisse ausdrückt, wahrscheinlich schon aus

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