Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
einer anderen Sphäre: der des Willens. Clarisse wird das, was ihr zustößt, voraussichtlich niemals erklären können, wohl aber wird sie es vielleicht lösen können; und sie nennt das schon ganz richtig ‹erlösen›, sie gebraucht instinktiv das rechte Wort dafür. Denn es könnte ja leicht einer von uns auch sagen, daß ihm das wie Wahnideen vorkomme, oder daß Clarisse ein nervenschwacher Mensch sei; aber das hätte gar keinen Zweck: die Welt ist zur Zeit so wahnfrei, daß sie bei nichts weiß, ob sie es lieben oder hassen soll, und weil alles zweiwertig ist, darum sind auch alle Menschen Neurastheniker und Schwächlinge. Mit einem Wort,» schloß der Prophet plötzlich «es fällt dem Philosophen nicht leicht, auf die Erkenntnis zu verzichten, aber es ist wahrscheinlich die große werdende Erkenntnis des zwanzigsten Jahrhunderts, daß man es tun muß. Mir, in Genf, ist es heute geistig wichtiger, daß es dort einen französischen Boxlehrer gibt, als daß der Zergliederer Rousseau dort geschaffen hat!»
    Meingast hätte noch mehr gesprochen, da er einmal im Zug war. Erstens davon, daß der Erlösungs-Gedanke immer anti-intellektuell gewesen sei. «Also ist nichts der Welt heute mehr zu wünschen als ein guter kräftiger Wahn»: diesen Satz hatte er sogar schon auf der Zunge gehabt, dann aber zugunsten der anderen Schlußwendung hinuntergeschluckt. Zweitens von der körperlichen Mitbedeutung der Erlösungsvorstellung, die schon durch den Wortkern «lösen», verwandt mit «lockern», gegeben sei; eine körperliche Mitbedeutung, die darauf hinweist, daß nur Taten erlösen können, das heißt Erlebnisse, die den ganzen Menschen mit Haut und Haaren einbeziehn. Drittens hatte er davon sprechen wollen, daß wegen der Über-Intellektualisierung des Mannes unter Umständen die Frau die instinktive Führung zur Tat übernehmen werde, wovon Clarisse eines der ersten Beispiele sei. Endlich von der Wandlung des Erlösungsgedankens in der Geschichte der Völker überhaupt und davon, wie gegenwärtig in dieser Entwicklung die jahrhundertealte Vorherrschaft des Glaubens, daß Erlösung bloß ein vom religiösen Gefühl geschaffener Begriff sei, der Erkenntnis Platz mache, daß sie durch die Entschlossenheit des Willens, ja, wenn nötig, sogar durch Gewalt herbeigeführt werden müsse. Denn die Erlösung der Welt durch Gewalt war augenblicklich der Mittelpunkt seiner Gedanken. Aber Clarisse hatte inzwischen den saugenden Zug der ihr zugewendeten Aufmerksamkeit unerträglich werden gefühlt und dem Meister das Wort verlegt, indem sie sich Siegmund als der Stelle des geringsten Widerstandes zuwandte und zu ihm überlaut sagte: «Ich habe dir ja gesagt: man kann nur das verstehn, was man mitmacht: darum müssen wir selbst ins Irrenhaus gehn!»
    Walter, der, um an sich zu halten, eine Mandarine schälte, schnitt in diesem Augenblick zu tief, und ein ätzender Strahl spritzte ihm ins Auge, so daß er zurückfuhr und nach dem Taschentuch suchte. Siegmund, wie immer sorgfältig gekleidet, betrachtete zuerst mit Liebe zur Sache die Wirkung der Reizung auf seines Schwagers Auge, dann die Wildlederhandschuhe, die als Stilleben der Ehrbarkeit mitsamt einem runden steifen Hut auf seinem Knie ruhten, und erst als der Blick seiner Schwester nicht von seinem Gesicht wich, und niemand durch eine Antwort für ihn eintrat, sah er mit einem ernsten Kopfnicken auf und murmelte gelassen: «Ich habe niemals bezweifelt, daß wir alle in ein Irrenhaus gehören.»
    Clarisse wandte sich darauf zu Meingast und sagte: «Von der Parallelaktion habe ich dir ja erzählt: das wäre wohl auch eine ungeheure Möglichkeit und Pflicht, mit dem ‹Gewährenlassen des So-und auch-Anders› aufzuräumen, das die Sünde des Jahrhunderts ist!»
    Der Meister winkte lächelnd ab.
    Clarisse, überströmt vom Enthusiasmus der eigenen Wichtigkeit, rief ziemlich abgerissen und starrköpfig aus: «Eine Frau, die einen Mann gewähren läßt, dessen Geist das schwächt, ist auch ein Lustmörder!»
    Meingast mahnte: «Wir wollen nur an die Allgemeinheit denken! Übrigens kann ich dich in der einen Frage beruhigen: bei jenen etwas lächerlichen Beratungen, in denen die sterbende Demokratie noch eine große Aufgabe gebären möchte, habe ich schon seit langem meine Beobachter und Vertrauensleute!»
    Clarisse fühlte einfach Eis an den Haarwurzeln.
    Vergeblich versuchte Walter noch einmal, das, was sich entwickelte, zu hemmen. Mit großer Achtung gegen Meingast ankämpfend, in

Weitere Kostenlose Bücher