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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Gedanke vor dem Aufbruch war aber: «Würde Ulrich wirklich alles ins Feuer werfen?»
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22
    Von der Koniatowski’schen Kritik des Danielli’schen Satzes zum Sündenfall. Vom Sündenfall zum Gefühlsrätsel der Schwester
    Der Zustand, in dem Ulrich die Straße betreten hatte, als er das Palais des Grafen Leinsdorf verließ, ähnelte dem nüchternen Gefühl des Hungers; er blieb vor einer Anschlagfläche stehn und stillte seinen Hunger nach Bürgerlichkeit an den Bekanntmachungen und Anzeigen. Die mehrere Meter große Tafel war bedeckt mit Worten. «Eigentlich dürfte man annehmen,» fiel ihm ein «daß gerade diese Worte, die sich an allen Ecken und Enden der Stadt wiederholen, einen Erkenntniswert haben.» Sie kamen ihm mit den stehenden Wendungen verwandt vor, die von den Personen beliebter Romane in wichtigen Lebenslagen geäußert werden, und er las: «Haben Sie schon etwas so Angenehmes und Praktisches getragen wie den Topinam-Seidenstrumpf?» «Durchlaucht amüsiert sich.» «Die Bartholomäusnacht neu bearbeitet.» «Gemütlichkeit im Schwarzen Rössl.» «Schmissige Erotik und Tanz im Roten Rössl.» Daneben fiel ihm noch ein politischer Anschlag auf «Verbrecherische Machenschaften»: er bezog sich aber nicht auf die Parallelaktion, sondern auf den Brotpreis. Er wandte sich um und blickte nach einigen Schritten in die Auslage eines Buchladens. «Das neue Werk des großen Dichters» las er auf einer Papptafel, die neben fünfzehn gleiche, aneinandergereihte Bände gestellt war. Dieser Tafel gegenüber stand in der anderen Ecke der Auslage ein Seitenstück mit dem gedruckten Hinweis auf ein zweites Werk: «Herr und Dame vertiefen sich mit gleicher Spannung in ‹Babel der Liebe› von ...»
    «Der ‹große› Dichter?» dachte Ulrich. Er erinnerte sich, nur ein Buch von ihm gelesen und vorausgesetzt zu haben, er werde niemals ein zweites lesen müssen: seither war der Mann aber trotzdem berühmt geworden. Und Ulrich fiel angesichts der deutschen Geistesauslage ein alter Soldatenwitz ein: «Mortadella!» So war zu seiner Militärzeit ein unbeliebter Divisionsgeneral genannt worden, nach der beliebten italienischen Wurst, und wer nach der Auflösung des Wortspiels fragte, erhielt die Antwort: «Teils Schwein, teils Esel.» Ulrich würde diesen Vergleich angeregt fortgesetzt haben, wäre er daran nicht durch eine Frau verhindert worden, die ihn mit den Worten «Sie warten hier auch auf die Straßenbahn?» ansprach. Dadurch kam er darauf, daß er nicht mehr vor dem Buchladen stand.
    Er hatte auch nicht gewußt, daß er inzwischen unbeweglich neben der Tafel einer Haltestelle stehen geblieben war. Die Dame, die ihn das bemerken machte, trug einen Rucksack und eine Brille; sie war eine ihm bekannte Astronomin, Assistentin am Institut, eine der wenigen Frauen, die in dieser männlichen Disziplin etwas Bedeutendes leisten. Er sah ihr auf die Nase und auf die Plätze unter den Augen, die in der gewohnheitsmäßigen Anstrengung des Nachdenkens etwas von Schweißblättern aus Guttapercha angenommen hatten; dann gewahrte er in der Tiefe ihren geschürzten Lodenrock, in der Höhe aber eine Schildhahnfeder auf einem grünen Hut, der über ihrem gelehrten Antlitz schwebte, und lächelte. «Sie gehen ins Gebirge?» fragte er.
    Dr. Strastil fuhr auf drei Tage ins Gebirge «ausspannen». «Was sagen Sie zu der Arbeit von Koniatowski?» fragte sie Ulrich. Ulrich sagte nichts. «Kneppler wird sich darüber ärgern» meinte sie. «Aber die Kritik, die Koniatowski an der Knepplerschen Ableitung des Danielli’schen Satzes übt, ist interessant: finden Sie nicht auch? Halten Sie diese Ableitung für möglich?»
    Ulrich zuckte die Achseln.
    Er gehörte zu jenen, Logistiker genannten, Mathematikern, die überhaupt nichts richtig fanden und eine neue Fundamentallehre aufbauten. Aber er hielt auch die Logik der Logistiker nicht für ganz richtig. Hätte er weitergearbeitet, er würde nochmals auf Aristoteles zurückgegriffen haben; er hatte darüber seine eigenen Ansichten.
    «Ich halte die Knepplersche Ableitung ja trotzdem nicht für verfehlt, sondern bloß für falsch» bekannte Dr. Strastil. Sie hätte ebensogut betonen können, daß sie die Ableitung für verfehlt, aber trotzdem, in wesentlichen Grundzügen, nicht für falsch halte; sie wußte, was sie meinte, aber in der gewöhnlichen Sprache, wo die Worte nicht definiert sind, kann sich kein Mensch eindeutig ausdrücken: unter ihrem Touristenhut regte sich, indes sie sich

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