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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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hinnimmt! Und unvermutet abspringend dachte sie: «Es ist wie ein Haufen fremder Kinder, den man mit anerzogener Freundlichkeit betrachtet, voll wachsender Angst, weil es einem nicht gelingt, das eigene darunter zu erblicken!»
    Es beruhigte sie, daß sie sich vorgesetzt hatte, ihr Leben zu beenden, wenn es auch nach seiner letzten Wendung, die ihr noch bevorstand, nicht anders geworden sein sollte. Wie die Gärung im Wein strömte die Erwartung in ihr, daß Tod und Schrecken nicht das letzte Wort der Wahrheit sein werden. Sie empfand kein Bedürfnis, darüber nachzudenken. Sie hatte sogar Angst vor diesem Bedürfnis, dem Ulrich so gerne nachgab, und es war eine angriffslustige Angst. Denn sie fühlte wohl, daß alles, was sie mit solcher Stärke ergriff, nicht ganz frei von einer beständigen Andeutung war, daß es nur Schein sei. Aber ebenso gewiß war im Schein flüssige, gelöste Wirklichkeit enthalten: vielleicht noch nicht Erde gewordene Wirklichkeit, dachte sie: und in einem jener wunderbaren Augenblicke, wo sich der Ort, wo sie stand, ins Ungewisse aufzulösen schien, vermochte sie zu glauben, daß hinter ihr, in dem Raum, wohin man niemals sehen könne, vielleicht Gott stünde. Sie erschrak vor diesem Zuviel! Eine schauerliche Weite und Leere durchdrang sie plötzlich, eine uferlose Helle verfinsterte ihren Geist und versetzte ihr Herz in Angst. Ihre Jugend – leicht bereit zu solcher Besorgnis, wie es Unerfahrenheit mit sich bringt – flüsterte ihr ein, daß sie in Gefahr stehe, Anfänge eines sich bildenden Wahnsinns groß werden zu lassen: Sie strebte zurück. Heftig hielt sie sich vor, daß sie doch gar nicht an Gott glaube. Und wirklich tat sie es nicht, seit man sie gelehrt hatte, es zu tun, was eine Unterabteilung des Mißtrauens war, das sie gegen alles empfand, was man sie gelehrt hatte. Sie war nichts weniger als religiös in jenem festen Sinn, der zu einer überirdischen oder auch nur moralischen Überzeugung hinreicht. Aber erschöpft und zitternd mußte sie sich nach einer Weile abermals eingestehn, daß sie «Gott» gerade so deutlich gefühlt habe wie einen Mann, der hinter ihr stünde und ihr einen Mantel um die Schulter legte.
    Nachdem sie genügend darüber nachgedacht hatte und wieder kühn geworden war, kam sie dahinter, daß die Bedeutung des von ihr erlebten Vorgangs gar nicht in jener «Sonnenverfinsterung» gelegen habe, von der ihre körperlichen Empfindungen befallen worden waren, sondern hauptsächlich eine moralische gewesen sei. Eine plötzliche Veränderung ihres innersten Zustands und, abhängend davon, aller ihrer Beziehungen zur Welt hatte ihr für einen Augenblick jene «Einheit des Gewissens mit den Sinnen» verliehen, die sie bisher nur in so geringen Andeutungen gekannt hatte, daß es gerade hinreichte, dem gewöhnlichen Leben etwas Trostloses und Trübselig-Leidenschaftliches zu hinterlassen, ob Agathe nun versuchen mochte, gut zu handeln oder schlecht. Es kam ihr vor, daß diese Veränderung ein unvergleichliches Erfließen gewesen wäre, das ebensowohl von ihrer Umgebung ausgegangen war wie von ihr zu dieser hin, ein Einssein der höchsten Bedeutung mit der geringsten Bewegung des Geistes, der sich kaum von den Dingen abhob. Die Dinge waren von den Empfindungen durchdrungen worden und die Empfindungen von den Dingen in einer so überzeugenden Weise, daß Agathe fühlte, von allem, worauf sie das Wort Überzeugung bisher angewandt hätte, wäre sie nicht einmal berührt worden. Und das war unter Umständen geschehn, die es nach gewöhnlicher Auffassung ausschlossen, sich überzeugt zu geben.
    So lag die Bedeutung dessen, was sie in ihrer Einsamkeit erlebte, nicht etwa in der Rolle, die ihm psychologisch, als irgendeinem Hinweis auf eine reizbare oder leicht zerstörbare Persönlichkeit zugekommen wäre, denn sie lag überhaupt nicht in der Person, sondern im Allgemeinen oder im Zusammenhang der Person mit ihm, den Agathe nicht mit Unrecht als einen moralischen ansprach, in dem Sinn, daß es der jungen von sich enttäuschten Frau vorkam, wenn sie immer so leben dürfte, wie in den Minuten der Ausnahme und auch nicht zu schwach wäre, darin zu verharren, so könnte sie die Welt lieben und sich gütig in sie fügen; und anders bringe sie es nicht zustande! Nun erfüllte sie ein leidenschaftliches Zurückstreben, aber solche Augenblicke der größten Steigerung lassen sich nicht mit Gewalt wieder herbeiführen; und mit der Deutlichkeit, die ein blasser Tag, nachdem die

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