Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
dieser Urlaubssprache bediente, etwas von dem ängstlichen Hochmut, den die sinnliche Laienwelt in einem Klostermann erregen muß, wenn er sich unvorsichtig mit ihr abgibt.
    Ulrich stieg mit Fräulein Strastil in die Straßenbahn: wußte nicht warum. Vielleicht weil ihr die Kritik Koniatowskis an Kneppler so wichtig vorkam. Vielleicht wollte er mit ihr über schöne Literatur sprechen, von der sie nichts verstand. «Was werden Sie im Gebirge machen?» fragte er.
    Sie wollte auf den Hochschwab.
    «Sie werden dort noch zuviel Schnee vorfinden. Mit Skiern kommt man nicht mehr hinauf und ohne Skier noch nicht» riet er ab, der das Gebirge kannte.
    «Dann bleibe ich unten» erklärte ihm Fräulein Strastil. «In den Hütten auf der Färsenalm, die am Anstieg liegen, bin ich schon einmal drei Tage gewesen. Ich will ja nichts als bloß ein wenig Natur!»
    Das Gesicht, das die treffliche Astronomin zu dem Worte Natur machte, reizte Ulrich zu der Frage, wozu sie sich eigentlich Natur wünsche.
    Dr. Strastil empörte sich ehrlich. Sie könne die ganzen drei Tage auf der Alm liegen, ohne sich zu rühren: wie ein Felsblock! verkündete sie.
    «Höchstens weil Sie Wissenschaftlerin sind!» warf Ulrich ein. «Ein Bauer würde sich langweilen!»
    Das sah Dr. Strastil nicht ein. Sie sprach von den Tausenden, die an jedem Feiertag zu Fuß, zu Rad, zu Schiff die Natur suchten.
    Ulrich sprach von der Landflucht der Bauern, die es nach der Stadt ziehe.
    Fräulein Strastil bezweifelte, daß er elementar genug fühle.
    Ulrich behauptete, elementar sei neben Essen und Liebe die Bequemlichkeit, aber nicht das Aufsuchen einer Alm. Das natürliche Empfinden, das dazu angeblich treibe, sei vielmehr ein moderner Rousseauismus, ein verwickeltes und sentimentales Verhalten. – Er fühlte sich keineswegs gut sprechen, es war ihm gleichgültig, was er sagte, er fuhr darin nur fort, weil es noch immer nicht das war, was er aus sich herausbefördern wollte. Fräulein Strastil warf ihm einen mißtrauischen Blick zu. Sie war nicht imstande, ihn zu verstehen; ihre große Denkerfahrung in reinen Begriffen nützte ihr nicht das geringste, sie konnte die Vorstellungen, mit denen er bloß behende um sich zu werfen schien, weder auseinanderhalten, noch zusammenbekommen; sie vermutete, daß er rede, ohne zu denken. Daß sie solchen Worten mit einer Hahnenfeder am Hut zuhörte, bereitete ihr die einzige Genugtuung und bestärkte ihre Freude an der Einsamkeit, der sie entgegenreiste.
    In diesem Augenblick fiel Ulrichs Blick in die Zeitung seines Nachbarn, und er las in großen Lettern als Überschrift eines Inserats: «Die Zeit stellt Fragen, die Zeit gibt Antwort»: es mochte sich darunter die Empfehlung einer Schuheinlage befinden oder die eines Vortrags, das kann man heute nicht mehr unterscheiden, aber seine Gedanken sprangen plötzlich in das Geleise, das er brauchte. Seine Gefährtin bemühte sich, objektiv zu sein, und gestand unsicher: «Ich kenne leider wenig von der Schönen Literatur, unsereins hat ja keine Zeit. Vielleicht kenne ich auch gar nicht das Richtige. Aber zum Beispiel» – und nun nannte sie einen beliebten Namen – «gibt mir unglaublich viel. Ich finde, wenn uns ein Dichter so lebendig fühlen machen kann, ist das wohl etwas Großes!» Doch weil Ulrich der in Dr. Strastils Geist bestehenden Verbindung einer außerordentlichen Entwicklung des begrifflichen Denkens mit auffälligem Schwachsinn des Seelenverstandes bereits genug zu verdanken glaubte, erhob er sich erfreut, sagte seiner Fachverwandten eine dicke Schmeichelei und stieg eilig aus, wobei er vorschützte, schon zwei Haltestellen zu weit gefahren zu sein. Als er im Freien stand und noch einmal grüßte, erinnerte sich Fräulein Strastil, in letzter Zeit Ungünstiges über seine Leistungen gehört zu haben, und fühlte sich menschlich bewegt durch eine Blutwelle, die seine gefälligen Abschiedsworte erregt hatten, was ihren Überzeugungen nach nicht gerade für ihn sprach; er aber wußte nun und wußte es gleichwohl noch nicht ganz, warum seine Gedanken um die Sache der Literatur kreisten und was sie dort wollten, von dem unterbrochenen Mortadella-Vergleich an bis zur unbewußten Verleitung der guten Strastil zu Geständnissen. Schließlich ging ihn die Literatur nichts mehr an, seit er mit zwanzig Jahren sein letztes Gedicht geschrieben hatte; immerhin war zuvor eine Zeitlang heimliches Schreiben eine ziemlich regelmäßige Gewohnheit von ihm gewesen, und er hatte sie nicht

Weitere Kostenlose Bücher