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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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hervor, und die mit dem Bild ihres unvergessenen Geliebten schob sie, nachdem sie den jungen Mann zum letzten Mal stirnrunzelnd betrachtet hatte, unter den Deckel einer schlecht vernagelten Kiste, die auf unbestimmte Zeit zu lagern kommen sollte und anscheinend Küchengeschirr oder Beleuchtungskörper enthielt, denn sie hörte Metall über Metall, wie die Äste eines Baums hinabfallen; die Kapsel mit dem Gift tat sie aber nun an die Stelle, wo sie früher das Bild getragen hatte.
    «Wie unmodern ich bin!» dachte sie dabei lächelnd – «gewiß gibt es Wichtigeres als Liebeserlebnisse!» Aber sie glaubte es nicht.
    Man hätte in diesem Augenblick ebensowenig sagen können, daß sie es ablehne, zu ihrem Bruder in unerlaubte Beziehungen zu treten, wie daß sie es wünsche. Das mochte von der Zukunft abhängen; aber in ihrem gegenwärtigen Zustand entsprach nichts der Entschiedenheit einer solchen Frage.
    Das Licht schminkte die Bretter, zwischen denen sie saß, grellweiß und tiefschwarz. Und eine ähnliche tragische Maske, die seiner doch wohl nur schlichten Bedeutung etwas Unheimliches gab, trug der Gedanke, daß sie nun den letzten Abend in dem Haus verbringe, wo sie von einer Frau geboren worden war, an die sie sich niemals hatte erinnern können und von der auch Ulrich geboren worden war. Ein uralter Eindruck beschlich sie, es stünden Clowns mit todernsten Gesichtern und sonderbaren Instrumenten um sie. Sie begannen zu spielen. Agathe erkannte darin einen Wachtraum der Kindheit wieder. Sie konnte diese Musik nicht hören, aber alle Clowns sahen sie an. Sie sagte sich, daß in diesem Augenblick ihr Tod für niemand und nichts ein Verlust wäre, und für sie selbst mochte er auch nur den äußeren Abschluß eines inneren Absterbens bedeuten. So dachte sie, während die Clowns ihre Töne bis zur Decke steigerten, und saß scheinbar auf einem mit Sägemehl bestreuten Zirkusboden, und die Tränen tropften ihr auf die Finger. Es war ein Gefühl tiefer Sinnlosigkeit, das sie früher als Mädchen oft empfunden hatte, und sie dachte: «Ich bin wohl noch bis heute kindisch geblieben?» was sie aber nicht hinderte, gleichzeitig wie an etwas, das durch ihre Tränen maßlos groß aussah, daran zu denken, daß gleich in der ersten Stunde ihres Wiedersehens sie und ihr Bruder einander in solchen Clownskitteln gegenübergetreten seien. «Was bedeutet es, daß es gerade mein Bruder ist, an den sich das anschloß, was ich in mir habe?» fragte sie sich. Und plötzlich weinte sie wirklich. Sie hätte keinen anderen Grund dafür angeben können, daß es geschah, als daß es eben aus Herzenslust geschah, und schüttelte heftig den Kopf, so als ob etwas in ihm wäre, das sie weder auseinander-, noch zusammenzubringen vermöchte.
    Dabei dachte sie in einer natürlichen Einfalt, Ulrich werde zu allen Fragen schon die Antwort finden, solange bis der Alte wieder eingetreten war und die Gerührte gerührt betrachtete. «Die junge gnädige Frau ...!» sagte er gleichfalls kopfschüttelnd. Agathe sah ihn verwirrt an, aber als sie das Mißverständnis dieses Bedauerns begriff, das ihrer kindlichen Trauer galt, erwachte wieder der Übermut ihrer Jugend in ihr. «Wirf alles, was du hast, ins Feuer bis zu den Schuhen. Wenn du nichts mehr hast, denk nicht einmal ans Leichentuch und wirf dich nackt ins Feuer!» sagte sie zu ihm. Es war ein alter Spruch, den ihr Ulrich entzückt vorgelesen hatte, und der Alte lächelte zu dem ernsten und sanften Schwung dieser Worte, die sie ihm mit Augen vorsagte, die unter Tränen glühten, ein Stummellächeln des Verstehens und blickte, der weisenden Hand seiner Herrin, die sein Verständnis durch eine Irreführung erleichtern wollte, folgend, auf die hochgetürmten Kisten, die fast zu einem Scheiterhaufen aufgerichtet waren. Zum Leichentuch hatte der Greis verständig genickt, bereitwillig zu folgen, wenn ihn der Weg der Worte auch etwas ungeebnet dünkte; aber von dem Worte nackt an erstarrte er, als Agathe ihren Spruch noch einmal wiederholte, zu der höflichen Dienermaske, deren Ausdruck versichert, daß man weder sehen, noch hören, noch urteilen wolle.
    Solange er bei seinem alten Herrn gedient hatte, war dieses Wort kein einziges Mal vor ihm ausgesprochen worden, höchstens hatte man entkleidet gesagt; aber die jungen Leute waren jetzt anders, und er würde sie wohl gar nicht mehr zur Zufriedenheit bedienen können. Mit der Ruhe des Feierabends fühlte er, daß seine Laufbahn zu Ende war. Agathes letzter

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