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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Sonne untergegangen ist, annimmt, wurde sie erst mit der Vergeblichkeit ihrer stürmischen Bemühungen gewahr, daß das einzige, dessen sie gewärtig sein durfte und worauf sie in der Tat auch mit einer Ungeduld wartete, die sich unter ihrer Einsamkeit bloß verborgen hatte, jene sonderbare Aussicht wäre, die ihr Bruder einmal mit einer halb im Scherz ausgesprochenen und erklärten Bezeichnung das Tausendjährige Reich genannt hatte. Er hätte wohl ebensogut auch ein anderes Wort dafür gewählt haben können, denn was es Agathe bedeutete, war nur der überzeugende und zuversichtliche Klang nach etwas, das im Kommen ist. Sie hätte das nicht zu behaupten gewagt. Sie wußte ja auch jetzt noch nicht sicher, ob es wahrhaft möglich sei. Sie wußte überhaupt nicht, was es sei. Sie hatte im Augenblick wieder alle Worte vergessen, mit denen ihr Bruder bewies, daß sich hinter dem, was ihren Geist bloß mit leuchtenden Nebeln erfüllte, die Möglichkeit ins Ungemessene weiter erstrecke. Aber solange sie sich in seiner Gesellschaft befunden hatte, war ihr nicht anders zumute gewesen, als bildete sich aus seinen Worten ein Land, und nicht in ihrem Kopf bildete es sich, sondern wahrhaftig unter ihren Füßen. Gerade daß er oft nur ironisch davon sprach, wie überhaupt sein Wechseln zwischen Kühle und Gefühl, das sie früher so oft verwirrt hatte, erfreute Agathe jetzt in ihrer Verlassenheit, durch eine Art Bürgschaft, wirklich gemeint zu sein, die alle unfreundlichen Seelenzustände vor den verzückten voraushaben. «Ich habe wahrscheinlich nur deshalb an den Tod gedacht, weil ich mich davor fürchte, daß er es nicht ernst genug meint» gestand sie sich ein.
    Sie wurde vom letzten Tag, den sie in Abwesenheit zu verbringen hatte, überrascht; es war mit einemmal im Hause alles geordnet und ausgeräumt, und nur noch die Schlüssel blieben dem alten Ehepaar zu übergeben, das, testamentarisch versorgt, im Gesindebau zurückblieb, bis das Grundstück einen neuen Besitzer fände. Agathe hatte sich geweigert ins Hotel zu ziehn und wollte bis zu ihrer Abreise, die zwischen Mitternacht und Morgen bevorstand, auf ihrem Platz bleiben. Das Haus war verpackt und vermummt. Eine Notbeleuchtung brannte. Zusammengeschobene Kisten bildeten Tisch und Stuhl. Am Rand einer Schlucht, auf einer Kistenterrasse, hatte sie zum Abendbrot decken lassen. Der alte Diener ihres Vaters balancierte Geschirr durch Licht und Schatten; er und seine Frau hatten es sich nicht nehmen lassen, aus ihrer eigenen Küche zu helfen, damit die gnädige junge Frau, wie sie es ausdrückten, wenn sie das letztemal in ihrem Elternhause speise, nicht schlecht bedient sei. Und plötzlich dachte Agathe völlig außerhalb des Geistes, worin sie diese Tage verbracht hatte: «Ob sie am Ende etwas bemerkt haben?!» Es konnte ja sein, daß sie nicht alle Papiere mit den Vorübungen für die Abänderung des Testaments vernichtet hätte. Sie fühlte kalten Schreck, schrecklich geträumtes Gewicht, das sich an alle Glieder hängt, den geizigen Schreck der Wirklichkeit, der dem Geist nichts gibt, sondern nur von ihm nimmt. In diesem Augenblick gewahrte sie mit leidenschaftlicher Stärke das in ihr neu erwachte Verlangen zu leben. Gewalttätig lehnte es sich gegen die Möglichkeit auf, daß sie daran verhindert werden könnte. Entschlossen suchte sie, als der alte Diener wiederkehrte, sein Gesicht zu erforschen. Aber der Greis ging mit seinem vorsichtigen Lächeln arglos hin und her und empfand irgendetwas Stummes und Feierliches. Sie konnte so wenig in ihn hineinsehen wie in eine Mauer und wußte nicht, ob hinter diesem blinden Glanz noch etwas in ihm wäre. Auch sie empfand nun etwas Stummes, Feierliches und Trauriges. Er war immer der Konfident ihres Vaters gewesen, unweigerlich bereit, ihm jedes Geheimnis seiner Kinder auszuliefern, das er erführe: aber Agathe war in diesem Hause geboren, und alles, was seither geschehen war, ging heute zu Ende, und es rührte Agathe, daß sie und er nun feierlich und allein waren. Sie faßte den Beschluß, ihm ein besonderes kleines Geldgeschenk zu machen, und nahm sich in plötzlicher Schwäche vor, daß sie sagen werde, es geschähe im Auftrag von Professor Hagauer, und überlegte das nicht aus List, sondern aus dem Zustand einer Bußhandlung und in der Absicht, nichts zu unterlassen, obwohl ihr klar war, daß er ebenso unzweckmäßig wie abergläubisch sei. Sie holte auch, ehe der Alte wiederkehrte, noch ihre beiden verschiedenen Kapseln

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