Gesammelte Werke
‹Persönlichkeit› von vorne anfängt!» Er hatte die klare Vorstellung einer ungeheuren Verkehrtheit, geradezu einer in menschheitlichen Ausmaßen, vermochte das aber doch nicht in einer Weise auszudrücken, die ihn ganz befriedigt hätte, da die Zusammenhänge wohl zu vielseitig waren.
Er beobachtete, während ihn das beschäftigte, die vorbeikommenden Bahnen und wartete auf eine, die ihn möglichst nah an das Innere der Stadt zurückbringen sollte. Er sah die Menschen aus- und einsteigen, und sein technisch nicht unerfahrener Blick spielte zerstreut mit den Zusammenhängen von Schmieden und Gießen, Walzen und Nieten, von Konstruktion und Werkstattausführung, geschichtlicher Entwicklung und gegenwärtigem Stand, aus denen die Erfindung dieser rollenden Baracken bestand, deren sie sich bedienten. «Zum Schluß kommt dann eine Abordnung der Straßenbahnverwaltung in die Waggonfabrik und entscheidet über die Holzverschalung, den Anstrich, die Polsterung, die Anbringung der Arm- und Handstützen, der Aschenbecher und ähnliches,» dachte er nebenbei «und gerade diese Kleinigkeiten machen aus, und die rote oder grüne Farbe des Kastens macht es aus, und der Schwung, mit dem sie über das Trittbrett hineinklettern können, macht für Zehntausende Menschen das aus, was sie behalten, das einzige, was für sie von allem Genie übrig bleibt und von ihnen erlebt wird. Das bildet ihren Charakter, gibt ihm Raschheit oder Bequemlichkeit, läßt sie rote Bahnen als Heimat und blaue als Fremde empfinden und bildet jenen unverwechselbaren Geruch aus kleinen Tatsachen, den die Jahrhunderte an ihren Kleidern haben.» Es war also nicht zu leugnen und schloß sich mit einemmal an das andere an, was Ulrichs Hauptgedankenzug bildete, daß zum großen Teil auch das Leben in unbedeutende Aktualität mündet, oder wenn man es technisch ausdrückt, daß ein seelischer Wirkungskoeffizient sehr klein ist.
Und plötzlich, während er sich selbst mit einem Schwung in den Wagen klettern fühlte, sagte er zu sich: «Ich muß Agathe einprägen: Moral ist Zuordnung jedes Augenblickszustandes unseres Lebens zu einem Dauerzustand!» Dieser Satz war ihm in der Art einer Definition mit einemmal eingefallen. Nicht voll entwickelt und ausgegliedert, waren diesem überblank geschliffenen Gedanken aber Einfälle vorangegangen und folgten nach und ergänzten das Verständnis. Eine strenge Auffassung und Aufgabensetzung für die harmlose Beschäftigung des Fühlens, eine ernste Rangordnung standen damit, ungewiß verkürzt, in Aussicht: Gefühle müssen entweder dienen oder einem bis ins Letzte reichenden, noch keineswegs beschriebenen Zustand angehören, der groß wie das küstenlose Meer ist. Sollte man das eine Idee, sollte man es eine Sehnsucht nennen? Ulrich mußte es auf sich beruhen lassen, denn in dem Augenblick, wo ihm der Name seiner Schwester eingefallen war, verdunkelte ihr Schatten seine Gedanken. Wie immer, wenn er an sie dachte, war ihm zumute, er habe während der in ihrer Gesellschaft verbrachten Zeit einen anderen Geisteszustand gezeigt als sonst. Er wußte auch, daß er leidenschaftlich wieder in diesen Zustand zurück wolle. Aber die gleiche Erinnerung bedeckte ihn mit der Schmach, daß er sich angemaßt, lächerlich und trunken betragen habe, nicht besser als ein Mensch, der sich in seinem Taumel auf die Knie vor Zuschauern wirft, denen er nächsten Tags nicht wird ins Antlitz sehen können. Das war, angesichts der maßvoll gebändigten geistigen Beziehung zwischen den Geschwistern, ungeheuerlich übertrieben, und sollte man es nicht völlig für unbegründet halten, so war es nur als Widerspiel zu Gefühlen anzusehen, die noch keine Gestalt hatten. Er wußte, daß Agathe in wenigen Tagen eintreffen müsse, und hinderte nichts. Hatte sie überhaupt etwas Unrechtes getan? Man konnte ja annehmen, sie habe mit dem Erkalten ihrer Laune alles wieder rückgängig gemacht. Aber eine sehr lebhafte Ahnung versicherte ihm, daß Agathe nicht von ihrer Absicht abgestanden sei. Er hätte bei ihr anfragen können. Er fühlte sich wieder verpflichtet, sie brieflich zu warnen. Aber statt diesen Vorsatz auch nur einen Augenblick ernst zu nehmen, stellte er sich vor, was Agathe zu ihrem ungewöhnlichen Verhalten bewogen haben möge: er sah dieses als eine unglaublich heftige Gebärde an, durch die sie ihm ihr Vertrauen schenkte und sich in seine Hand gab. «Sie hat sehr wenig Realitätssinn,» dachte er «aber eine wunderbare Art, das zu tun, was
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