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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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sah Ulrich nun täglich abgebaut, auseinandergenommen und gleichsam an der Innenseite. Und wenn die Geheimnisse einer Frau auch längst keine mehr für ihn waren, ja gerade weil er sie zeit seines Lebens bloß durcheilt hatte wie Vorräume oder Vorgärten, machten sie sich jetzt ganz anders gelten, wo es keinen Durchlaß und kein Ziel gab. Die Spannung, die in allen diesen Dingen lag, schlug zurück. Ulrich hätte schwer zu sagen vermocht, welche Veränderungen sie anrichtete. Er hielt sich mit Recht für einen männlich empfindenden Mann, und es erschien ihm begreiflich, daß es einen solchen locken kann, einmal das so oft Begehrte auch von der anderen Seite zu sehn, aber manchmal wurde das beinahe unheimlich, und er lehnte sich lachend dagegen auf.
    «Als ob über Nacht die Mauern eines Mädchenpensionats um mich in die Höhe gewachsen wären und mich durch und durch einschlössen!» wandte er ein.
    «Ist das schrecklich?» fragte Agathe.
    «Ich weiß nicht» gab Ulrich zur Antwort.
    Dann nannte er sie eine fleischfressende Pflanze und sich ein armes Kerbtier, das in ihren leuchtenden Kelch hineingekrochen sei. «Du hast ihn um mich geschlossen,» sagte er «und nun sitze ich inmitten von Farben, Duft und Glanz und warte, wider meine Natur schon ein Stück von dir geworden, auf die Männchen, die wir anlocken werden!»
    Und es erging ihm wirklich verwunderlich, wenn er Zeuge des Eindrucks wurde, den seine Schwester auf Männer machte, er, dessen Sorge doch gerade darin bestand, sie «an den Mann zu bringen». Er war nicht eifersüchtig – in welcher Eigenschaft hätte er es auch sein sollen?! – er stellte sein Wohlbefinden hinter das ihre zurück und wünschte ihr, daß sich bald ein würdiger Mann fände, sie aus dem Übergangszustand zu erlösen, in den sie durch die Trennung von Hagauer geraten war: und trotzdem, wenn er sie im Mittelpunkt einer Gruppe von Männern sah, die sich um sie bemühten, oder wenn ihr auf der Straße ein Mann, angezogen von ihrer Schönheit und unbekümmert um den Begleiter, ins Gesicht sah, so wußte er nicht, wie ihm war. Auch da wurde ihm, da ihm der einfache Ausweg der männlichen Eifersucht verboten war, oft zumute, als schlösse sich eine Welt um ihn, die er noch nie betreten habe. Er kannte aus Erfahrung die Kapriolen des Mannes so genau wie die vorsichtigere Liebestechnik der Frau, und wenn er Agathe dem ausgesetzt und das ausüben sah, so litt er; er glaubte den Bewerbungen von Pferden oder Mäusen beizuwohnen, das Schnauben und Zuwiehern, das Mundspitzen und -breitziehen, worin sich fremde Menschen einander selbstgefällig und gefällig darstellen, widerte ihn, der es ohne Mitgefühl betrachtete, wie eine schwere, aus dem Leibesinneren emporstreichende Betäubung an. Und setzte er sich trotzdem mit seiner Schwester in eins, wie es einem tiefen Bedürfnis seines Gefühls entsprach, so fehlte wieder manchmal nicht viel dazu, daß er nachträglich, verwirrt von solcher Duldung, die Scham erlebt hätte, die ein recht beschaffener Mann empfindet, wenn sich ihm unter Vorwänden einer genähert hat, der es nicht ist. Als er das Agathe verriet, lachte sie. «Es gibt ja auch einige Frauen in unserem Kreis, die sich um dich sehr bemühn» war ihre Antwort.
    Was ging da vor sich?
    Ulrich sagte: «Im Grunde ist es ein Protest gegen die Welt!»
    Und es sagte Ulrich: «Du kennst Walter: wir mögen uns längst nicht mehr; aber wenn ich mich auch über ihn ärgere und ebenfalls weiß, daß ich ihn reize, fühle ich doch oft, wenn ich ihn nur sehe, ein liebes Gefühl, als stimmte ich mit ihm so gut überein, wie ich eben nicht übereinstimme. Sieh doch, man versteht im Leben so viel, ohne damit einverstanden zu sein; und mit jemand von vornherein einverstanden zu sein, ehe man ihn erst versteht, ist darum eine so märchenhaft schöne Sinnlosigkeit, wie wenn Wasser im Frühling von allen Seiten zu Tal rinnt!»
    Und er fühlte: «Jetzt ist es so!»und er dachte: «Sobald es mir gelingt, gegen Agathe gar keine Selbst- und Ichsucht mehr zu haben und kein einziges häßlich-gleichgültiges Gefühl, dann zieht sie die Eigenschaften aus mir hinaus wie der Magnetberg die Schiffsnägel! Ich werde moralisch in einen Uratomzustand aufgelöst, wo ich weder ich, noch sie bin! Vielleicht ist so die Seligkeit?!»
    Aber er sagte bloß: «Es macht soviel Spaß, dir zuzuschaun!»
    Agathe wurde dunkelrot und sagte: «Warum macht es ‹Spaß›?»
    «Ach, ich weiß nicht. Du schämst dich manchmal vor mir»

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