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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Es war eigentlich etwas an ihr, das nicht zu ihm und nicht zu anderen Menschen und ihren Interessen stimmte; es widerstritt auch nicht; sie lachte ja mit oder wurde ernst, wo es sich gehörte, aber sie hatte, wenn er es recht überlegte, in all den Jahren immer einen etwas zerstreuten Eindruck gemacht. Sie schien dem, was man ihr mitteilte oder auseinandersetzte, Gehör zu schenken und es doch niemals zu glauben. Sie kam ihm, betrachtete man das genau, geradezu ungesund gleichgültig vor. Manchmal empfing man den Eindruck von ihr, daß sie ihre Umgebung überhaupt nicht auffasse ...: Und plötzlich hatte seine Feder, ehe er es selbst wußte, begonnen, in charaktervollen Bewegungen über das Papier zu eilen. «Du glaubst, wunder was es sei,» so schrieb er «wenn du dich für zu gut hältst, das Leben zu lieben, das ich dir zu bieten in der Lage bin und das, bei aller Bescheidenheit, ein reines und volles Leben ist: du hast es gleichsam immer mit der Feuerzange angefaßt, wie mich jetzt dünken will. Du hast dich dem Reichtum des Menschlichen und Sittlichen verweigert, den auch ein bescheidenes Leben zu bieten vermag, und selbst wenn ich annehmen müßte, daß du dich dazu durch irgend etwas berechtigt gefühlt haben könntest, hättest du den sittlichen Änderungswillen vermissen lassen und statt dessen lieber eine künstliche und phantastische Lösung gewählt!»
    Er überlegte es noch einmal. Er musterte die Schüler, die durch seine Erzieherhände gegangen waren, um einen Fall zu finden, der ihm Aufschluß geben könnte; aber noch ehe er damit recht begonnen hatte, fiel ihm von selbst das fehlende Stück der Überlegung ein, das er bisher mit einem undeutlichen Unbehagen vermißt hatte. Agathe war in diesem Augenblick kein völlig persönlicher Fall mehr für ihn, zu dem es keinen allgemeinen Zugang gab; denn wenn er bedachte, wieviel sie aufzugeben bereit sei, ohne von einer besonderen Leidenschaft verblendet zu werden, so wurde er zu seiner Freude unausweichlich auf die grundlegende, der modernen Pädagogik bekannte Annahme geführt, daß es ihr an der Fähigkeit übersubjektiver Überlegung und an sicherem geistigen Kontakt mit der Umwelt fehle! Rasch schrieb er: «Wahrscheinlich bist du dir auch bei dem, was du jetzt unternehmen willst, durchaus nicht deutlich bewußt, was es sei; aber ich warne dich, ehe du einen bleibenden Entschluß fassest! Du bist vielleicht das strikteste Gegenteil einer ins Leben gerichteten und seiner kundigen Menschenart, wie ich sie selbst darstelle, aber gerade darum solltest du dich nicht leichtfertig der Stütze entäußern, die ich dir biete!» – Eigentlich wollte Hagauer ja etwas anderes schreiben. Denn die Intelligenz eines Menschen ist kein abgeschlossenes und beziehungsloses Vermögen, ihre Mängel ziehen sittliche Mängel nach sich, spricht man doch von moralischem Blödsinn, ebenso wie sittliche Mängel, was allerdings seltener beachtet wird, imstande sind, die Verstandeskräfte in der ihnen beliebenden Richtung abzulenken oder zu blenden! Hagauer sah also einen geschlossenen Typus vor seinem geistigen Auge, den er im Anschluß an schon bestehende Bestimmungen am ehesten geneigt war als eine «im ganzen ausreichend intelligente Sonderart des moralischen Blödseins zu bezeichnen, das sich dann bloß in bestimmten Ausfallserscheinungen ausdrückt». Er brachte es nur nicht über sich, diesen aufschlußreichen Ausdruck zu verwenden, teils weil er es vermeiden wollte, seine entflohene Gattin noch mehr zu reizen, teils weil ein Laie solche Bezeichnungen gewöhnlich mißversteht, wenn sie auf ihn angewendet werden. Sachlich blieb aber daran festzuhalten, daß die beanstandeten Erscheinungen insgesamt in die große Gattung des Nicht-Vollsinnigen gehörten, und schließlich fiel Hagauer aus diesem Gegensatz zwischen Gewissen und Ritterlichkeit ein Ausweg ein, da sich die an seiner Frau zu beachtenden Ausfallserscheinungen in Anlehnung an eine weit verbreitete weibliche Minderleistung ja auch als sozialer Schwachsinn bezeichnen ließen! In dieser Auffassung beendete er seinen Brief in bewegten Worten. Mit dem prophetischen Ingrimm des verschmähten Liebhabers und Pädagogen schilderte er Agathe die asoziale, des Gemeinschaftsinns entbehrende und gefährdete Anlage ihrer Natur als eine «Minusvariante», die nie und nirgends den Problemen des Lebens tatkräftig und neuschaffend entgegentrete, wie es «heutige Zeit» von «ihren Menschen» verlange, sondern «durch eine Glasscheibe

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