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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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doch wahr: entweder muß ich unzurechnungsfähig gewesen sein, als ich ihn ohne zwingenden Grund heiratete, oder ich bin es jetzt, wo ich ihn mit ebenso wenig Grund verlasse.»
    Ulrich, der in diesem Augenblick zum drittenmal die Briefstellen durchlas, die seine Vorstellungsgabe unfreiwillig zum Zeugen des engen Verhältnisses zu Hagauer machten, antwortete zerstreut etwas Unverständliches.
    «Aber gib doch nur acht!» bat ihn Agathe. «Bin ich die zeitgemäße, wirtschaftlich oder geistig irgendwie tätige Frau? Nein. Bin ich die verliebte Frau? Auch nicht. Bin ich die gute, ausgleichende, vereinfachende, nestbildende Gefährtin und Mutter? Schon gar nicht. Was bleibt da noch übrig? Wozu bin ich also auf der Welt? Die Geselligkeit, in der wir uns bewegen, das muß ich dir doch gleich sagen, ist mir im Grunde völlig gleichgültig. Und ich glaube beinahe, was es an Musik, Dichtung und Kunst gibt, das gebildete Kreise entzückt, könnte ich auch ganz gut entbehren. Hagauer zum Beispiel nicht; Hagauer braucht das allein schon für seine Zitate und Hinweise. Er hat wenigstens das Erfreuliche und Ordentliche einer Sammlung immer für sich: Ist er also nicht im Recht, wenn er mir vorwirft, daß ich nichts leiste, daß ich mich dem ‹Reichtum des Schönen und Sittlichen› verweigere und daß ich höchstens noch bei Professor Hagauer Verständnis und Nachsicht finden kann?!»
    Ulrich gab ihr das Schreiben zurück und erwiderte in Ruhe: «Sehen wir der Sache ins Gesicht: Du bist mit einem Wort doch wirklich sozial schwachsinnig!» Er lächelte, aber in seinem Ton war die Gereiztheit zu spüren, die der Einblick in diesen vertrauten Brief in ihm zurückgelassen hatte.
    Agathe aber war es nicht recht, daß ihr Bruder so antworte. Es vergrößerte ihren Kummer. Nun fragte sie mit schüchternem Spott: «Warum hast du denn, wenn es so ist, ohne mir etwas zu sagen, darauf bestanden, daß ich geschieden werde und meinen einzigen Beschützer verliere?»
    «Ach, vielleicht deshalb,» meinte Ulrich ausweichend «weil es so herrlich einfach ist, in einem festen männlichen Ton miteinander zu verkehren. Ich habe mit der Faust auf den Tisch geschlagen, er hat mit der Faust auf den Tisch geschlagen; natürlich mußte ich dann doppelt so heftig auf den Tisch schlagen: Ich glaube, deshalb habe ich es getan.»
    Bisher hatte sich Agathe, obwohl ihre Verstimmung verhinderte, daß sie es selbst merke, doch sehr, ja wild darüber gefreut, daß ihr Bruder heimlich das Gegenteil von dem getan habe, was er in der Zeit des scherzhaft tändelnden Geschwisterspiels offen an den Tag legte; denn daß er Hagauer beleidigte, konnte scheinbar nur den Zweck haben, hinter ihr ein Hindernis zu errichten, das jede Umkehr ausschlösse. Aber jetzt war auch an der Stelle dieser verborgenen Freude nur der hohle Verlust, und Agathe verstummte.
    «Wir dürfen nicht übersehn,» fuhr Ulrich fort «wie gut es Hagauer in seiner Art gelingt, dich, wenn ich so sagen darf, beinahe treffend mißzuverstehn. Gib acht, er wird auf seine Weise, ohne Detektivbüro, bloß indem er über die Schwächen deines Verhältnisses zur Menschheit nachzudenken beginnt, noch herausfinden, was du mit Vaters Testament vorgenommen hast. Wie wollen wir dich dann verteidigen?»
    Zum erstenmal, seit sie wieder beisammen waren, kam so zwischen den Geschwistern die Rede auf den unselig-seligen Streich, den Agathe gegen Hagauer geführt hatte. Heftig zuckte sie die Achseln und machte eine unbestimmte Abwehrbewegung.
    «Hagauer ist natürlich im Recht» gab ihr Ulrich sanft und nachdrücklich zu bedenken.
    «Er ist nicht im Recht!» entgegnete sie mit Bewegung.
    «Er hat teilweise recht» vermittelte Ulrich. «Wir müssen in einer so gefährlichen Lage mit einem völlig klaren Selbstbekenntnis beginnen. Was du getan hast, kann uns beide ins Zuchthaus bringen.»
    Agathe sah ihn mit erschreckt geöffneten Augen an. Eigentlich wußte sie das ja, aber es war noch nie so unbezweifelt ausgesprochen worden.
    Ulrich antwortete mit einer freundlichen Gebärde. «Das ist noch nicht das Schlimmste» fuhr er fort. «Aber wie halten wir das, was du getan hast, und auch die Art, wie du es getan hast, von dem Vorwurf frei, daß es –» Er suchte nach einem Ausdruck, der ihm genügen sollte, und fand keinen: «Also, sagen wir einfach, daß es doch ein wenig so ist, wie Hagauer meint; daß es sich nach der Seite des Schattens neigt, der Ausfallserscheinungen, der Fehler, die aus etwas Fehlendem entstehn?

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