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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Hagauer vertritt die Stimme der Welt, wenn sie auch lächerlich in seinem Mund klingt.»
    «Jetzt kommt die Tabaksdose» rief Agathe kleinlaut aus.
    «Jawohl, jetzt kommt sie» antwortete Ulrich beharrlich. «Ich muß dir etwas sagen, was mich schon lange bedrückt.»
    Agathe wollte ihn nicht zu Wort kommen lassen. «Ist es nicht besser, wir machen es ungeschehn?!» fragte sie. «Vielleicht sollte ich gütlich mit ihm sprechen und ihm irgendeine Entschuldigung anbieten?»
    «Dazu ist es schon zu spät. Er könnte es jetzt als Werkzeug gebrauchen, um dich zu zwingen, daß du zu ihm zurückkehrst» erklärte Ulrich.
    Agathe schwieg.
    Ulrich fing mit der Tabaksdose an, die ein wohlhabender Mann im Hotel stiehlt. Er hatte sich eine Theorie gemacht, daß es nur drei Gründe für ein solches Eigentumsvergehen gebe: Not, Beruf oder, wenn keines von beiden zutrifft, eine beschädigte seelische Anlage. «Du hast mir, als wir einmal davon sprachen, eingewandt, man könne es auch aus Überzeugung tun» fügte er hinzu.
    «Ich habe gesagt, man könne es einfach tun!» warf Agathe ein.
    «Nun ja: aus Prinzip.»
    «Nein, nicht aus Prinzip!»
    «Also, das ist es eben!» sagte Ulrich. «Wenn man so etwas tut, so muß man wenigstens eine Überzeugung damit verbinden! Ich komme nicht darüber hinweg! Man tut nichts ‹einfach›; entweder ist es von außen begründet oder von innen. Das mag sich wohl nicht leicht trennen lassen, aber darüber wollen wir jetzt nicht philosophieren; ich sage bloß: wenn man etwas ganz Unbegründetes für recht hält oder wenn gar ein Entschluß wie aus dem Nichts entsteht, dann verdächtigt man sich einer krankhaften oder schadhaften Anlage.»
    Damit war nun freilich weit mehr und Schlimmeres gesagt, als Ulrich wollte; es deckte sich bloß in der Richtung mit seinen Bedenken.
    «Ist das alles, was du mir darüber mitzuteilen hast?» fragte Agathe still.
    «Nein, es ist nicht alles» erwiderte Ulrich erbittert: «Wenn man keinen Grund hat, so muß man einen suchen!»
    Keiner von beiden war darüber in Zweifel, wo sie ihn suchen müßten. Aber Ulrich wollte es anders und sagte nach einer kleinen Weile des Schweigens nachdenklich: «In dem Augenblick, wo du dich aus dem Einklang mit den anderen hinausbegibst, wirst du in alle Ewigkeit nicht mehr wissen, was gut und was böse ist. Willst du gut sein, so mußt du also überzeugt sein, daß die Welt gut ist. Und das sind wir beide nicht. Wir leben in einer Zeit, wo die Moral entweder in Auflösung oder in Krämpfen ist. Aber um einer Welt willen, die noch kommen kann, soll man sich rein halten!»
    «Glaubst du denn, daß das irgendeinen Einfluß darauf hat, ob sie kommt oder nicht?» wandte Agathe ein.
    «Nein, das glaube ich leider nicht. Höchstens so glaube ich es: Wenn auch die Menschen, die das sehen, nicht richtig handeln, so kommt sie gewiß nicht und der Verfall ist nicht aufzuhalten!»
    «Was hast du denn davon, ob es in fünfhundert Jahren anders sein wird oder nicht?!»
    Ulrich zögerte. «Ich tue meine Pflicht, verstehst du? Vielleicht wie ein Soldat.»
    Wahrscheinlich lag es daran, daß Agathe an diesem Unglücksmorgen eines anderen und zärtlicheren Trostes bedürftig war, als ihn Ulrich gab: sie erwiderte: «Am Ende bloß wie dein General?!»
    Ulrich schwieg.
    Agathe mochte nicht einhalten. «Du bist doch gar nicht sicher, ob es deine Pflicht ist» fuhr sie fort. «Du tust es, weil du eben so bist und weil es dir Freude macht. Etwas anderes habe ich auch nicht getan!»
    Sie verlor plötzlich die Selbstbeherrschung. Irgend etwas war sehr traurig. Sie hatte mit einemmal Tränen in den Augen, und in der Kehle würgte ein heftiges Schluchzen. Um das zu verbergen und nicht den Augen ihres Bruders darzubieten, schlang sie die Arme um seinen Hals und verbarg ihr Gesicht an seiner Schulter. Ulrich fühlte, wie sie weinte und ihr Rücken zitterte. Eine lästige Verlegenheit beschlich ihn: er bemerkte sich kalt werden. So viele zärtliche und glückliche Gefühle er auch für seine Schwester zu besitzen glaubte, sie waren in diesem Augenblick, der ihn rühren mußte, nicht da; sein Empfinden war verstört und kam nicht in Tätigkeit. Er streichelte Agathe und flüsterte einige Trostworte, aber es widerstrebte ihm. Und weil die geistige Miterregung fehlte, kam ihm die Berührung der beiden Körper wie die zweier Strohwische vor. Er machte dem ein Ende, indem er Agathe zu einem Stuhl führte und sich selbst einige Schritte von ihr entfernt in einen anderen

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