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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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von der Wirklichkeit getrennt» in gewählter Selbstvereinsamung verharre, dauernd am Rande der pathologischen Gefahr. «Wenn dir etwas an mir mißfiele, hättest du ihm entgegenwirken müssen» schrieb er; «aber die Wahrheit ist, daß dein Gemüt den Energien der Gegenwart nicht gewachsen ist und ihren Forderungen ausweicht! Ich habe dich nun vor deinem Charakter gewarnt» schloß er «und wiederhole, daß du eine verläßliche Stütze dringender benötigst als andere Menschen. In deinem eigenen Interesse fordere ich dich auf, unverzüglich zurückzukehren, und erkläre, daß es mir die Verantwortung, die ich als dein Gatte trage, verbietet, deinem Wunsche nachzugeben.»
    Diesen Brief las Hagauer, ehe er ihn unterschrieb, noch einmal durch, fand ihn in der Erfassung des fraglichen Typus sehr unvollständig, aber änderte nichts mehr daran, außer daß er am Ende – die ungewohnte, stolz bewältigte Anstrengung, über seine Frau nachzudenken, als kräftige Ausatmung durch den Schnurrbart blasend und erwägend, wieviel eigentlich auch zu der Frage «Neue Zeit» noch gesagt werden müßte – eine ritterliche Wendung vom kostbaren Vermächtnis des verehrten verstorbenen Vaters einfügte, dort, wo das Wort Verantwortung stand.
    Als Agathe das alles gelesen hatte, geschah das Wunderliche, daß der Inhalt dieser Ausführungen nicht ohne Eindruck auf sie blieb. Langsam ließ sie das Schreiben, nachdem sie es im Stehen, ohne daß sie sich die Zeit nahm, sich zu setzen, noch einmal Wort für Wort durchgesehen hatte, sinken und reichte es Ulrich, der mit Verwunderung die Erregung seiner Schwester beobachtet hatte.
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30
    Ulrich und Agathe suchen nachträglich einen Grund
    Und während nun Ulrich las, beobachtete Agathe mutlos sein Mienenspiel. Er hatte sein Gesicht über den Brief geneigt, und der Ausdruck darin schien unentschlossen zu sein, wie er sich entscheiden solle, ob für Spott, Ernst, Kummer oder Verachtung. In diesem Augenblick senkte sich ein schweres Gewicht auf sie; es drang von allen Seiten ein, als verdichte sich die Luft zu unerträglicher Dumpfheit, nachdem zuvor eine unnatürlich köstliche Leichtigkeit geherrscht habe: was Agathe mit dem Testament ihres Vaters getan hatte, bedrückte zum erstenmal ihr Gewissen. Aber es würde nicht genügen, sagte man, daß sie mit einemmal ermaß, wessen sie sich in Wirklichkeit schuldig gemacht habe; vielmehr empfand sie ein solches wirkliches Ermessen im Verhältnis zu allem, auch zu ihrem Bruder, und sie fühlte eine unbeschreibliche Nüchternheit. Alles, was sie getan hatte, erschien ihr unbegreiflich. Sie hatte davon gesprochen, ihren Gatten zu töten, sie hatte ein Testament gefälscht, und sie hatte sich ihrem Bruder angeschlossen, ohne zu fragen, ob sie sein Leben damit störe: in einem einbildungsreichen Rauschzustand hatte sie das getan. Und besonders beschämte es sie in diesem Augenblick, daß ihr der nächste und natürlichste Gedanke dabei völlig gefehlt habe, denn jede andere Frau, die sich von einem Mann freimacht, den sie nicht mag, wird entweder einen besseren suchen oder sich durch Unternehmen anderer, aber ebenso natürlicher Art entschädigen. Oft genug hatte sogar Ulrich selbst darauf hingewiesen, doch hatte sie nie darauf gehört. Nun stand sie da und wußte nicht, was er sagen werde. Ihr Verhalten kam ihr so sehr als das eines wirklich nicht ganz zurechnungsfähigen Wesens vor, daß sie Hagauer recht gab, der ihr in seiner Weise vorhielt, was sie sei; und sein Brief in Ulrichs Hand machte sie ähnlich betroffen, wie es ein Mensch sein mag, der ohnehin unter Anklage steht und nun noch ein Schreiben seines früheren Lehrers erhält, worin ihn dieser seiner Verachtung versichert. Natürlich hatte sie Hagauer niemals einen Einfluß auf sich eingeräumt; trotzdem war die Wirkung so, als dürfte er ihr sagen: «ich habe mich in dir getäuscht!» oder: «ich habe mich leider nie in dir getäuscht und immer das Gefühl gehabt, du wirst ein böses Ende nehmen!» In dem Bedürfnis, diesen lächerlichen und kummervollen Eindruck abzuschütteln, unterbrach sie vor der Zeit Ulrich, der noch immer aufmerksam in dem Brief las und, wie es schien, damit gar nicht fertig werden konnte, mit ungeduldigen Worten:
    «Er beschreibt mich eigentlich ganz richtig» ließ sie scheinbar gleichmütig einfließen, aber doch mit dem Nachdruck einer Herausforderung, die deutlich den Wunsch verriet, das Gegenteil zu hören. «Und wenn er es auch nicht ausspricht, so ist es

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