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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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aber nicht anders. Ulrichs Gespräche mit ihren Scherzen und ihrer scheinbar unparteiischen Überlegenheit wirkten wie ein Hohn darauf. Sie bewunderte diese Überlegenheit und alle die geistigen Bedürfnisse, die über die ihren hinausgingen. Aber sie sah nicht ein, warum alle Gedanken immer gleich für alle Menschen gelten sollten! Sie verlangte in ihrer Beschämung persönlichen Trost und nicht allgemeine Belehrung! Sie wollte nicht tapfer sein!! Und nach einer Weile warf sie sich vor, daß sie so sei, und vergrößerte ihren Schmerz durch die Einbildung, daß sie nichts Besseres verdiene als Ulrichs Gleichgültigkeit.
    Diese Selbstverkleinerung, zu der weder Ulrichs Benehmen noch auch das peinliche Schreiben Hagauers einen ausreichenden Anlaß gegeben hatte, war ein Temperamentsausbruch. Alles, was Agathe bisher in der nicht sehr langen Zeit, seit sie kein Kind mehr war, als ihr Versagen vor den Forderungen des Gemeinschaftslebens empfunden hatte, war dadurch bewirkt worden, daß sie diese Zeit in dem Gefühl verbrachte, ohne oder sogar gegen ihre innigsten Neigungen zu leben. Es waren Neigungen der Hingabe und des Vertrauens, denn sie war niemals so in der Einsamkeit heimisch geworden wie ihr Bruder; aber wenn es ihr bisher unmöglich gewesen war, sich einem Menschen oder einer Sache mit ganzer Seele hinzugeben, so kam es dennoch davon, daß sie die Möglichkeit einer größeren Hingabe in sich trug, mochte diese nun die Arme nach der Welt oder nach Gott ausstrecken! Es ist ja ein bekannter Weg zur Hingabe an die ganze Menschheit, daß man sich mit seinen Nachbarn nicht verträgt, und ebenso kann ein verstecktes und inniges Gottesverlangen daraus entstehn, daß ein unsoziales Exemplar mit einer großen Liebe ausgestattet ist: der religiöse Verbrecher in solcher Bedeutung ist kein ärgerer Widersinn als die religiöse alte Person, die keinen Mann gefunden hat, und Agathes Verhalten gegen Hagauer, das die ganz unsinnige Form eines eigennützigen Vorgehens hatte, war ebenso der Ausbruch eines ungeduldigen Willens wie die Heftigkeit, mit der sie sich anklagte, durch ihren Bruder zum Leben erweckt worden zu sein und in ihrer Schwäche es wieder verlieren zu müssen.
    Es duldete sie nicht lange in der gemächlich rollenden Bahn; als die Häuser zu Seiten des Wegs anfingen niedriger und ländlich zu werden, verließ sie den Wagen und legte den Rest des Weges zu Fuß zurück. Die Höfe waren geöffnet, durch Torgänge und über niedere Zäune kam der Blick zu Handwerkern, Tieren und spielenden Kindern. Die Luft war erfüllt von einem Frieden, in dessen Weite Stimmen sprachen und Geräte pochten; mit den unregelmäßigen und sanften Bewegungen eines Schmetterlings regten sich diese Laute in der hellen Luft, während sich Agathe wie einen Schatten daran vorbei zu der nahe ansteigenden Flucht der Weinberge und Wälder gleiten fühlte. Aber einmal blieb sie stehn, vor einem Hof mit Böttchern und dem guten Laut mit Hämmern geklopften Faßholzes. Sie hatte zeitlebens gern einer solchen guten Arbeit zugesehn und Vergnügen an dem bescheiden sinnvollen und überlegten Werk der Hände empfunden. Auch diesmal konnte sie von dem Takt der Schlegel und den rundum schreitenden Bewegungen der Männer nicht genughaben. Es ließ sie für Augenblicke ihren Kummer vergessen und versenkte sie in eine angenehme und gedankenlose Verbundenheit mit der Welt. Sie empfand immer Bewunderung für Menschen, die so etwas konnten, das mannigfaltig und natürlich aus einem Bedarf hervorging, der allgemein anerkannt war. Nur selbst mochte sie nicht tätig sein, obwohl sie mancherlei geistiges und nützliches Geschick hatte. Das Leben war auch ohne sie vollständig. Und mit einemmal, ehe ihr noch der Zusammenhang klar war, hörte sie Glocken läuten und konnte sich nur mit Mühe hindern, wieder zu weinen. Die kleine Kirche des Vororts hatte wohl schon die ganze Zeit ihre zwei Glocken schallen lassen, aber Agathe beachtete es erst jetzt, und im gleichen Augenblick überwältigte es sie unmittelbar, wie sehr diese nutzlosen Klänge, die, ausgeschlossen von der guten, strotzenden Erde, leidenschaftlich durch die Luft flogen, ihrem eigenen Dasein verwandt seien.
    Sie nahm hastig ihren Weg wieder auf, und begleitet von dem Geläute, das sie nun nicht mehr aus den Ohren verlor, kam sie rasch zwischen den letzten Häusern auf die Hügel hinaus, deren Hänge unten von Weinrieden und einzelnen die Pfade säumenden Büschen bestanden waren, während oben

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