Gesammelte Werke
fortzugehn, aus den Bäumen hinaus ins Freie an den Rand der Hügel, ohne daß sie sich entschieden, ob sie nun auch einen der in die Tiefe führenden Wege und welchen dieser Abstiege sie wählen wollten. Sie gingen vielmehr im Gespräch ein großes Stück Wegs die Höhe entlang, dann kehrten sie um und dann gingen sie noch einmal in der ersten Richtung; keiner wußte, wohin der andere gewollt habe, und mochte doch darauf Rücksicht nehmen. «Wollen Sie mir nicht sagen, warum Sie geweint haben?» wiederholte der Fremde mit der milden Stimme des Arztes, der fragt, wo es weh tue. Agathe schüttelte den Kopf. «Das könnte ich Ihnen nicht leicht erklären» sagte sie und bat ihn plötzlich: «Aber beantworten Sie mir eine andere Frage: Was gibt Ihnen die Gewißheit, daß Sie mir helfen können, ohne mich zu kennen? Ich sollte eher glauben, man kann niemand helfen!»
Ihr Begleiter antwortete nicht gleich. Er setzte mehrmals zum Sprechen an, aber es schien, daß er sich zwang zu warten. Endlich sagte er: «Man kann wahrscheinlich nur jemand helfen, dessen Leid man selbst einmal durchlebt hat.»
Er schwieg. Agathe lachte über den Einfall, daß dieser Mann ihr Leid durchlebt haben wolle, das ihm Abscheu einflößen müßte, wenn er es kennte. Ihr Begleiter schien dieses Lachen zu überhören oder für eine Ungezogenheit der Nerven zu halten. Er überlegte und sagte ruhig: «Ich meine natürlich nicht, daß man sich einbilden dürfe, jemand zeigen zu können, wie er es zu machen habe. Aber sehen Sie: Angst in einer Katastrophe steckt an, und – Entronnensein steckt auch an! Ich meine das bloße Entronnensein wie bei einem Brand. Alle sind kopflos geworden und rennen in die Flammen: Welche ungeheure Hilfe, wenn ein einziger draußen steht und winkt, nichts tut als winken und ihnen unverständlich zuschrein, daß es einen Ausweg gibt ...!»
Agathe hätte über die schrecklichen Vorstellungen, die dieser gütige Mann doch in sich beherberge, beinahe wieder gelacht; aber gerade weil sie nicht mit ihm übereinstimmten, arbeiteten sie sein wachsweiches Gesicht fast unheimlich hervor. – «Sie sprechen ja wie ein Feuerwehrmann!» gab sie zur Antwort und ahmte mit Absicht die Neckerei und Oberflächlichkeit einer Dame nach, um ihre Neugierde zu verbergen. «Aber irgendeine Vorstellung davon, in welcher Katastrophe ich mich befinde, müssen Sie sich wohl doch gemacht haben?!» – Ohne ihren Willen kam dabei der Ernst des Spottes durch, denn die schlichte Vorstellung, daß dieser Mann ihr helfen wolle, empörte sie durch die ebenso schlichte Dankbarkeit dafür, die sich in ihr meldete. Der Fremde sah sie erstaunt an, dann sammelte er sich und entgegnete ihr fast zurechtweisend: «Sie sind wahrscheinlich noch zu jung, um zu wissen, daß unser Leben sehr einfach ist. Es ist unüberwindlich verworren nur dann, wenn man an sich denkt; aber in dem Augenblick, wo man nicht an sich denkt, sondern sich fragt, wie man einem andern helfen könne, ist es sehr einfach!»
Agathe schwieg und dachte nach. Und machte es ihr Schweigen oder die ermutigende Weite, in die seine Worte hinausflogen, der Fremde sprach weiter, ohne sie anzusehen: «Die Überschätzung des Persönlichen ist ein moderner Aberglaube. Es wird ja heute so viel von Kultur der Persönlichkeit geredet, von Ausleben und Lebensbejahung. Aber durch solche unklaren und vieldeutigen Worte verraten ihre Bekenner nur, daß sie Nebel brauchen, um den eigentlichen Sinn ihrer Auflehnung zu verhüllen! Was soll denn bejaht werden? Alles miteinander und durcheinander? Entwicklung ist immer an Gegendruck gebunden, hat ein amerikanischer Denker gesagt. Wir können die eine Seite unserer Natur gar nicht entwickeln, ohne die andere im Wachstum zurückzuhalten. Und was soll denn ausgelebt werden? Der Geist oder die Triebe? Die Launen oder der Charakter? Die Selbstsucht oder die Liebe? Soll unsere höhere Natur sich ausleben, so muß die niedere Entsagung und Gehorsam lernen.»
Agathe dachte darüber nach, warum es einfacher sein solle, für andere zu sorgen als für sich. Sie gehörte zu jenen ganz und gar nicht egoistischen Naturen, die wohl stets an sich denken, aber nicht für sich sorgen, und das ist von der gewöhnlichen, um Vorteile besorgten Selbstsucht viel weiter entfernt als die zufriedene Selbstlosigkeit derer, die sich um ihre Mitmenschen sorgen. So blieb ihr das, was ihr Nachbar sagte, schon an der Wurzel fremd, aber irgendwie berührte es sie doch, und die einzelnen Worte, so
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