Gesammelte Werke
angefangen, irgendwie wieder an Gott zu glauben, aber ohne an ihn zu denken. Gewisse Zustände, in denen ihr immer die Welt anders vorgekommen war, als es den Anschein hat, und so, daß auch sie dann nicht mehr ausgeschlossen lebte, sondern ganz in einer strahlenden Überzeugung, waren durch Ulrich nahe an eine innere Metamorphose und gänzliche Umwandlung gebracht worden. Sie wäre bereit gewesen, sich einen Gott zu denken, der seine Welt öffnet wie ein Versteck. Aber Ulrich sagte, das sei nicht nötig, es schade höchstens, sich mehr einzubilden, als man erfahren könne. Und es war seine Sache, so etwas zu entscheiden. Dann mußte er sie aber auch führen, ohne sie zu verlassen. Er war die Schwelle zwischen zwei Leben, und alle Sehnsucht, die sie nach dem einen der beiden empfand, und alle Flucht aus dem anderen führte zuerst zu ihm. Sie liebte ihn in einer so schamlosen Weise, wie man das Leben liebt. Er erwachte des Morgens in allen ihren Gliedern, wenn sie die Augen aufschlug. Er sah sie auch jetzt aus dem dunklen Spiegel ihres Kummers an: Und da erst erinnerte sich Agathe wieder daran, daß sie sich töten wollte. Sie hatte das Gefühl, daß sie ihm zu Trotz von Hause zu Gott fortgelaufen wäre, als sie es mit dem Vorsatz verließ, sich zu töten. Aber der Vorsatz war wohl nun erschöpft und wieder auf seinen Ursprung zurückgesunken, daß sie von Ulrich gekränkt worden sei. Sie war böse auf ihn, das fühlte sie noch immer, aber die Vögel sangen, und sie hörte es wieder. Sie war genau so verwirrt wie zuvor, aber nun fröhlich verwirrt. Sie wollte irgend etwas tun, aber es sollte Ulrich treffen, und nicht nur sie. Die unendliche Erstarrung, in der sie auf den Knien gelegen hatte, wich der Wärme lebhaft in die Glieder strömenden Blutes, während sie sich aufrichtete.
Als sie auf blickte, stand ein Herr bei ihr. Sie wurde verlegen, denn sie wußte nicht, wie lange er ihr schon zugesehen habe. Als ihr von der Erregung noch dunkler Blick über den seinen glitt, bemerkte sie, daß er sie mit unverhüllter Anteilnahme betrachtete und ihr augenscheinlich herzliches Vertrauen einflößen wollte: Der Herr war groß und mager, trug dunkle Kleidung, und ein kurzer blonder Bart verdeckte Kinn und Wangen. Unter diesem Bart konnte man leicht aufgeworfene, weiche Lippen gewahren, die in so merkwürdig jugendlichem Gegensatz zu den allenthalben sich schon in das Blond mengenden grauen Haaren standen, als hätte sie das Alter unter dem Haarwuchs übersehen. Überhaupt war dieses Gesicht nicht ganz einfach zu entziffern. Der erste Eindruck machte an einen Mittelschullehrer denken; das Strenge in diesem Gesicht war nicht aus hartem Holz geschnitzt, sondern glich eher etwas Weichem, das sich unter täglichem kleinen Ärger verhärtet hatte. Ging man aber von dieser Weichheit aus, auf der der Mannesbart wie eingepflanzt wirkte, um einer Ordnung zu genügen, der sein Besitzer beipflichtete, so bemerkte man doch in dieser ursprünglich wohl weibischen Anlage harte, fast asketische Einzelheiten der Form, die offenbar ein unablässig tätiger Wille aus dem weichen Material geschaffen hatte.
Agathe wurde aus dem Anblick nicht klug, auch Anziehung und Abstoßung hielten sich in ihr die Wage, und sie verstand nur, daß dieser Mann ihr helfen wollte.
«Das Leben bietet ebensoviel Gelegenheit zur Kräftigung des Willens wie zu seiner Schwächung; man soll niemals fliehn vor den Schwierigkeiten, sondern soll sie zu beherrschen suchen!» sagte der Fremde und wischte, um besser zu sehen, die Augengläser ab, die sich beschlagen hatten. Agathe blickte ihn staunend an. Er mußte ihr offenbar doch schon lange zugesehen haben, denn diese Worte kamen ganz aus der Mitte eines inneren Gesprächs. Da erschrak er und lüftete den Hut, um diese Handlung nachzuholen, die man nicht vergessen darf; aber er fand sich rasch wieder und ging von neuem gerade vor. «Verzeihn Sie, wenn ich Sie frage, ob ich Ihnen helfen kann?» – sagte er – «Es kommt mir vor, daß man einen Schmerz, wahrhaftig oft selbst eine tiefe Erschütterung des Ich, wie ich sie hier sehe, leichter einem Fremden anvertraut!»
Es zeigte sich, daß der Fremde nicht ohne Anstrengung sprach; er schien eine charitative Pflicht erfüllt zu haben, indem er sich mit dieser schönen Frau einließ, und jetzt, wo sie nebeneinander dahinschritten, kämpfte er geradezu mit den Worten. Denn Agathe war einfach aufgestanden und hatte angefangen, langsam in seiner Gesellschaft von dem Grab
Weitere Kostenlose Bücher