Gesammelte Werke
wir haben uns mit unserer Überzeugung doch schon soviel Mühe gegeben –!»
Ulrich wollte wahrscheinlich noch vieles sagen; er zögerte ja eigentlich nur mit dem Einsatz, den er für seine Schwester bereit hatte, und es wäre gut gewesen, hätte er ihr das verraten. Denn plötzlich stand sie auf und machte sich unter einem flüchtigen Vorwand zum Ausgehen bereit. «Es bleibt also dabei, daß ich moralisch schwachsinnig bin?» fragte sie mit einem erzwungenen Versuch zu scherzen. «Ich komme mit dem allen, was du dagegen sagst, nicht mehr mit!»
«Wir beide sind moralisch schwachsinnig!» versicherte Ulrich höflich. «Wir beide!» Und er war etwas verstimmt durch die Eile, mit der ihn seine Schwester verließ, ohne zu sagen, wann sie wiederkäme.
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31
Agathe möchte Selbstmord begehn und macht eine Herrenbekanntschaft
In Wahrheit war sie davongeeilt, weil sie nicht nochmals ihrem Bruder den Anblick der Tränen darbieten wollte, die sie kaum zurückzudrängen vermochte. Sie war so traurig, wie es ein Mensch ist, der alles verloren hat. Warum, wußte sie nicht. Es war gekommen, während Ulrich sprach. Warum, wußte sie auch nicht. Er hätte etwas anderes tun sollen als sprechen. Was, wußte sie nicht. Er hatte ja recht, wenn er das «dumme Zusammentreffen» ihrer Aufregung mit dem Brief nicht wichtig nahm und weiter so redete, wie er es immer tat. Aber Agathe mußte davonlaufen.
Sie hatte zuerst nur das Bedürfnis zu laufen. Sie lief schnurstracks von ihrer Wohnung fort. War sie von Straßenzügen zum Abbiegen gezwungen, hielt sie die Richtung ein. Sie floh; in der gleichen Art, wie Menschen und Tiere aus einem Unglück flüchten. Warum, fragte sie sich nicht. Erst als sie ermüdete, wurde ihr klar, was sie vorhatte: Nicht mehr zurückkehren!
Sie wollte bis zum Abend gehn. Mit jedem Schritt weiter von Hause fort. Sie setzte voraus, wenn sie an der Schranke des Abends einhielte, würde auch ihr Entschluß fertig sein. Es war der Entschluß, sich zu töten. Es war eigentlich nicht der Entschluß, sich zu töten, sondern die Erwartung, daß er am Abend fertig sein werde. Ein verzweifeltes Strudeln und Treiben in ihrem Kopf hinter dieser Erwartung. Sie hatte nicht einmal etwas bei sich, sich zu töten. Ihre kleine Giftkapsel lag irgendwo in einer Lade oder in einem Koffer. Von ihrem Tod war nur das Verlangen fertig, nicht mehr zurückkehren zu müssen. Sie wollte aus dem Leben gehn. Davon war das Gehn da. Sie ging, mit jedem Schritt, gleichsam schon aus dem Leben.
Als sie müde wurde, bekam sie Sehnsucht nach Wiesen und Wald, nach Gehn im Stillen und Freien. Dorthin mußte man aber fahren. Sie nahm eine Straßenbahn. Sie war dazu erzogen, sich vor fremden Menschen zu beherrschen. Man merkte darum ihrer Stimme, als sie den Fahrschein löste und eine Auskunft erbat, keine Erregung an. Sie saß ruhig und aufgerichtet, kein Finger zuckte an ihr. Und während sie so saß, kamen die Gedanken. Es wäre ihr freilich wohler gewesen, wenn sie hätte toben können; bei gefesselten Gliedern blieben diese Gedanken wie große Packen, die sie sich vergeblich durch eine Öffnung zu zwängen mühte. Sie verübelte Ulrich, was er gesagt hatte. Sie wollte es ihm nicht verübeln. Sie sprach sich das Recht dazu ab. Was hatte er denn von ihr?! Sie nahm ihm seine Zeit und gab ihm nichts dafür; sie störte seine Arbeit und seine Lebensgewohnheiten. Bei dem Gedanken an seine Gewohnheiten empfand sie einen Schmerz. Solange sie im Hause war, hatte dieses anscheinend keine andere Frau betreten. Agathe war überzeugt, daß ihr Bruder immer eine Frau besitzen müsse. Er legte sich also ihretwegen Zwang an. Und da sie ihn durch nichts entschädigen konnte, war sie eigensüchtig und schlecht. In diesem Augenblick wäre sie gern umgekehrt und hätte ihn zärtlich um Verzeihung gebeten. Aber da fiel ihr nun wieder ein, wie kalt er gewesen sei. Offenbar bereute er, sie zu sich genommen zu haben. Was hatte er nicht alles entworfen und gesagt, ehe er ihrer überdrüssig geworden war! Nun sprach er nicht mehr davon. Die große Ernüchterung, die mit dem Brief gekommen war, marterte wieder Agathes Herz. Sie war eifersüchtig. Sinnlos und gemein eifersüchtig. Sie hätte sich ihrem Bruder aufnötigen mögen und fühlte die leidenschaftliche und ohnmächtige Freundschaft des Menschen, der sich seiner Zurückweisung entgegenwirft. «Ich könnte für ihn stehlen oder auf die Straße gehn!» dachte sie und sah ein, daß dies lächerlich war, konnte
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