Gesammelte Werke
geradezu ein Unglück, daß schon er anständig ist! So wird man hin- und hergestoßen!»
Er wartete auf eine Antwort, die nicht kam; so zuckte er die Achseln und wiederholte: «Wir suchen einen Grund für dich. Wir haben festgestellt, daß sich die honetten Menschen gar zu gern, wenn auch natürlich nur in der Phantasie, auf Verbrechen einlassen. Wir dürfen hinzufügen, daß dafür die Verbrecher, wenn man sie selbst hört, fast ohne Ausnahme als honette Menschen gelten möchten. Also könnte man geradezu definieren: Verbrechen sind die in den Herrn Sündern stattfindende Vereinigung alles dessen, was die andern Menschen in kleinen Unregelmäßigkeiten abströmen lassen. Das heißt in der Phantasie und in tausend alltäglichen Bosheiten und Lumpereien der Gesinnung. Man könnte auch sagen: die Verbrechen liegen in der Luft und suchen sich bloß einen Weg des geringsten Widerstandes, der sie zu bestimmten Menschen hinführt. Man könnte sogar sagen, sie sind zwar auch die Handlungen von Individuen, die der Moral nicht fähig sind, in der Hauptsache sind sie aber der zusammengezogene Ausdruck irgendeines allgemeinen menschlichen Mißverhaltens in der Scheidung zwischen Gut und Böse. Das ist es, was uns schon von Jugend an mit der Kritik erfüllt hat, über die unsere Zeitgenossenschaft nicht hinausgekommen ist!»
«Aber was ist denn Gut und Bös?» warf Agathe hin, ohne daß Ulrich bemerkte, daß er sie mit seiner Unbefangenheit peinige.
«Ja, das weiß ich doch nicht!» antwortete er lachend. «Ich bemerke doch soeben erst und zum erstenmal, daß ich das Böse verabscheue. Ich habe es wirklich bis heute nicht in dem Maße gewußt. Ach, Agathe, du hast ja keine Ahnung, wie das ist» klagte er nachdenklich; «zum Beispiel die Wissenschaft! Für einen Mathematiker ist, um es ganz einfach zu sagen, Minus Fünf nicht schlechter als Plus Fünf. Ein Forscher darf vor nichts Abscheu haben und wird von einem schönen Krebsfall unter Umständen freudiger erregt als von einer schönen Frau. Ein Wissender weiß, daß nichts wahr ist und die ganze Wahrheit erst am Ende aller Tage hegt. Die Wissenschaft ist amoralisch. Dieses ganze herrliche Eindringen ins Unbekannte entwöhnt uns der persönlichen Beschäftigung mit unserem Gewissen, ja es gewährt uns nicht einmal die Genugtuung, sie ganz ernst zu nehmen. Und die Kunst? Bedeutet sie nicht dauernd ein Schaffen von Bildern, die mit dem des Lebens nicht übereinstimmen? Ich rede nicht von dem falschen Idealismus oder von der Üppigkeit des Aktmalens zu Zeiten, wo man bis zur Nasenspitze angezogen lebt» scherzte er nun wieder. «Aber denk an ein wirkliches Kunstwerk: Hast du nie das Gefühl gehabt, daß etwas daran an den brenzlichen Geruch erinnert, der von einem Messer aufsteigt, das du an einem Stein schleifst? Es ist ein kosmischer, meteorischer, gewittriger Geruch, himmlisch unheimlich!?»
Hier war die einzige Stelle, wo ihn Agathe aus eigenem Antrieb unterbrach. «Hast du nicht früher selbst Gedichte gemacht?» fragte sie ihn.
«Das weißt du noch? Wann habe ich dir das einbekannt?» fragte Ulrich. «Ja; wir machen doch alle irgendwann Gedichte. Ich habe es sogar noch als Mathematiker getan» gab er zu. «Aber sie sind, je älter ich wurde, desto schlechter geworden; und ich glaube, nicht so sehr aus Talentlosigkeit wie aus wachsender Abneigung gegen das Unordentliche und zigeunerhaft Romantische dieser Gefühlsabschweifung –»
Seine Schwester schüttelte bloß leise den Kopf, aber Ulrich bemerkte es. «Doch!» beharrte er. «Ein Gedicht soll doch genau so wenig bloß ein Ausnahmezustand sein wie eine Tat der Güte! Aber wo kommt denn, wenn ich so fragen darf, der Augenblick der Erhebung im nächsten Augenblick hin? Du liebst Gedichte, das weiß ich: aber was ich sagen will, ist, daß man nicht bloß den Feuergeruch in der Nase haben darf, bis er sich verflüchtigt. Dieses unvollständige Verhalten ist genau das Seitenstück zu dem in der Moral, das sich in halbfertiger Kritik erschöpft.» Und plötzlich zur Hauptsache zurückkehrend, entgegnete er seiner Schwester: «Wenn ich mich in dieser Hagauer-Sache so verhielte, wie du es heute von mir erwartest, dann müßte ich doch skeptisch, lässig und ironisch sein. Die sicher sehr tugendhaften Kinder, die du oder ich vielleicht noch haben könnten, werden dann wahrhaftig von uns sagen, daß wir in eine bürgerlich sehr geborgene Zeit gehört haben, die sich keine Sorgen gemacht hat oder höchstens überflüssige. Und
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