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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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hellgrün der Wald winkte. Sie wußte nun auch, wohin es sie zog, und es war ein schönes Gefühl, als sänke sie mit jedem Schritt tiefer in die Natur. Ihr Herz klopfte vor Entzücken und Anstrengung, wenn sie manchmal anhielt und sich vergewisserte, daß auch die Glocken sie noch immer begleiteten, obschon hoch in der Luft versteckt und kaum hörbar. Es kam ihr vor, daß sie noch nie so mitten im Alltag Glocken läuten gehört hätte, gleichsam ohne besonderen, festlichen Anlaß und demokratisch eingemengt in die natürlichen und selbstgewissen Geschäfte. Aber von allen Zungen der tausendstimmigen Stadt sprach diese nun als letzte zu ihr, und daran war etwas, das sie packte, als wolle es sie aufheben und den Berg hinanschwingen, aber dann ließ es sie jedesmal doch wieder los und verlor sich in ein kleines metallenes Geräusch, das vor den zirpenden, brummenden oder rauschenden anderen Geräuschen des Landes nichts voraus hatte. So mochte Agathe wohl noch gegen eine Stunde gestiegen und gewandert sein, als sie sich plötzlich vor jener kleinen Buschwildnis fand, die sie im Gedächtnis getragen hatte. Sie umhegte ein vernachlässigtes Grab am Rand des Waldes, wo sich vor fast hundert Jahren ein Dichter getötet hatte und nach seinem letzten Wunsch auch zur Ruhe gebettet worden war. Ulrich hatte gesagt, daß es kein guter, wenn auch ein gerühmter Dichter gewesen sei, und die immerhin etwas kurzsichtige Poesie, die sich in dem Verlangen ausdrückt, auf einem Aussichtspunkt begraben zu sein, hatte an ihm einen scharfen Beurteiler gefunden. Aber Agathe liebte die Inschrift auf der großen Steinplatte, seit sie gemeinsam ihre von Regen verwaschenen schönen Biedermeier-Buchstaben auf einem Spaziergang entziffert hatten, und sie beugte sich über die schwarzen, aus großen kantigen Gliedern bestehenden Ketten, die das Viereck des Todes gegen das Leben umgrenzten.
    «Ich war euch nichts» hatte der lebensunzufriedene Dichter auf sein Grab setzen lassen, und Agathe dachte, das könne man auch von ihr sagen. Dieser Gedanke, am Rand einer Waldkanzel, über den grünenden Weinbergen und der fremden, unermeßlichen Stadt, die in der Vormittagssonne langsam ihre Rauchschweife bewegte, rührte sie von neuem. Sie kniete unversehens nieder und lehnte die Stirn gegen einen der als Kettenträger dienenden Steinpfeiler; die ungewohnte Stellung und die kühle Berührung des Steins täuschten ihr den etwas steifen, willenlosen Frieden des Todes vor, der sie erwartete. Sie versuchte sich zu sammeln. Es gelang ihr aber nicht gleich: Vogellaute drangen in ihr Ohr, es gab so viele verschiedene Vogellaute, daß es sie überraschte; Äste bewegten sich, und da sie den Wind nicht wahrnahm, kam ihr vor, daß die Bäume selbst ihre Äste bewegten; in einer plötzlichen Stille war ein leises Trippeln zu hören; der Stein, den sie ruhend berührte, war so glatt, daß sie das Gefühl hatte zwischen ihm und ihrer Stirn liege ein Eisstück, das sie nicht ganz heranlasse. Erst nach einer Weile wußte sie, daß sich in dem, was sie ablenkte, gerade das ausdrückte, was sie sich vergegenwärtigen wollte, jenes Grundgefühl ihrer Überflüssigkeit, das, wenn man es aufs einfachste bezeichnete, nur mit den Worten auszusprechen war, das Leben wäre auch ohne sie so vollständig, daß sie darin nichts zu suchen und zu bestellen hätte. Dieses grausame Gefühl war im Grunde weder verzweifelt noch gekränkt, sondern ein Zuhören und Zusehen, wie es Agathe immer gekannt hatte, und bloß ohne jeden Antrieb, ja ohne die Möglichkeit, sich selbst einzusetzen. Beinahe lag eine Geborgenheit in dieser Ausgeschlossenheit, so wie es ein Staunen gibt, das alles Fragen vergißt. Sie konnte ebensogut weggehen. Wohin? Irgendein Wohin mußte es wohl geben. Agathe gehörte nicht zu den Menschen, in denen auch die überzeugte Vorstellung von der Nichtigkeit aller Einbildungen eine Art Genugtuung zu bewirken vermag, die einer kriegerischen oder hämischen Enthaltsamkeit gleichkommt, mit der man sein unbefriedigendes Los entgegennimmt. Sie war großzügig und unbedenklich in solchen Fragen und nicht so wie Ulrich, der seinen Gefühlen die erdenklichsten Schwierigkeiten bereitete, um sie sich zu verbieten, wenn sie die Probe nicht bestünden. Sie war eben dumm! Ja, das sagte sie sich. Sie wollte nicht nachdenken! Trotzig preßte sie die tiefgesenkte Stirn gegen die eisernen Ketten, die ein wenig nachgaben und dann straff widerstanden. Sie hatte in den letzten Wochen

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