Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
Vom Netzwerk:
Friedenthal am Ärmel faßte und erregt fragte, ob Moosbrugger dabei sei. Friedenthal schüttelte stumm den Kopf. Er hatte keine Zeit. Er schärfte den Besuchern eilig ein, daß sie mindestens zwei Schritte Abstand von jedem Kranken zu halten hätten. Die Verantwortung für das Unternehmen schien ihn doch etwas zu bedrücken. Sie waren sieben gegen dreißig; in einem weltfernen, ummauerten, nur von Irren bewohnten Hof, von denen fast alle schon einen Mord begangen hatten. Menschen, die gewohnt sind, eine Wehr zu tragen, fühlen sich ohne das unsicherer als andere: es trifft darum auch den General, der seinen Säbel im Wartezimmer zurückgelassen hatte, kein Vorwurf, daß er den Arzt fragte: «Tragen Sie eigentlich eine Waffe bei sich?» «Aufmerksamkeit und Erfahrung!» erwiderte Friedenthal, dem diese schmeichelhafte Frage willkommen war. «Es kommt alles darauf an, jede Auflehnung schon im Keim zu ersticken.»
    Und wirklich, sobald einer auch nur die kleinste Bewegung aus der Reihe zu machen versuchte, stürzten sich schon die Wärter auf ihn und drückten ihn so schnell auf seinen Platz nieder, daß diese Überfälle als die einzigen Gewalttaten erschienen, die sich ereigneten. Clarisse war nicht einverstanden mit ihnen. «Was die Ärzte vielleicht nicht verstehn,» sagte sie sich «ist, daß diese Menschen doch, obwohl sie hier den ganzen Tag ohne Aufsicht zusammengesperrt sind, einander nichts tun; und nur uns, die wir aus der ihnen fremden Welt kommen, sind sie gefährlich!» Und sie wollte einen ansprechen; sie stellte sich mit einemmal vor, ihr müßte es gelingen, sich mit ihm in der rechten Weise zu verständigen. Gleich bei der Tür stand einer in der Ecke, es war ein kräftiger mittelgroßer Mann mit einem braunen Vollbart und stechenden Augen; er lehnte mit verschränkten Armen an der Wand, schwieg und sah dem Treiben der Besucher böse zu. Clarisse trat ihn an; aber im gleichen Augenblick legte Dr. Friedenthal seine Hand auf ihren Arm und hielt sie zurück. «Nicht diesen» sagte er halblaut. Er suchte Clarisse einen anderen Mörder aus und sprach ihn an. Das war ein kleiner Untersetzter mit einem kahl geschorenen spitzen Sträflingsschädel, den der Arzt wohl als umgänglich kannte, denn der Angesprochene stand sofort stramm vor ihm und zeigte, dienstwillig antwortend, zwei Zahnreihen, die in einer bedenklichen Weise an zwei Reihen Grabsteine erinnerten.
    «Fragen Sie ihn doch einmal, warum er hier ist» flüsterte Dr. Friedenthal Clarissens Bruder zu, und Siegmund fragte den breitschulterigen Spitzkopf: «Warum bist du hier?»
    «Das weißt du sehr gut!» war die knappe Antwort.
    «Ich weiß es nicht» versetzte Siegmund, der nicht gleich locker lassen wollte, ziemlich albern. «Also sag schon, warum bist du hier?!»
    «Das weißt du sehr gut!!» wiederholte sich die Antwort mit verstärktem Nachdruck.
    «Warum bist du unhöflich gegen mich?» fragte Siegmund. «Ich weiß es wirklich nicht!»
    «Dieses Lügen!» dachte Clarisse, und sie freute sich darüber, daß der Kranke einfach erwiderte: «Weil ich will!! Ich kann tun, was ich will!!!» wiederholte er und fletschte die Zähne.
    «Aber man soll doch nicht ohne Grund unhöflich sein!» wiederholte der unselige Siegmund, dem eigentlich auch nicht mehr einfiel als dem Irren.
    Clarisse war wütend auf ihn, der die dumme Rolle eines Menschen spielte, der in einem Tierpark ein gefangenes Tier reizt.
    «Das geht dich nichts an! Ich tue, was ich will, verstehst du?! Was ich will!!» ranzte der Geisteskranke wie ein Unteroffizier und lachte mit irgend etwas in seinem Gesicht, aber weder mit Mund noch Augen, die beide vielmehr voll unheimlichen Zorns waren.
    Selbst Ulrich dachte: «Ich möchte mit dem Kerl jetzt nicht allein sein.» Siegmund hatte es schwer, auf seinem Platz auszuharren, da der Irre nahe an ihn herangetreten war, und Clarisse wünschte, daß dieser ihren Bruder an der Kehle packen und ins Gesicht beißen möge. Friedenthal ließ mit Befriedigung den Auftritt sich entwickeln, denn einem ärztlichen Kollegen durfte er doch wohl etwas zumuten, und er hatte seinen Genuß an dessen Verlegenheit. Er ließ es meisterlich bis auf den höchsten Punkt kommen und setzte erst, als der Kollege kein Wort mehr hervorbrachte, dazu an, das Zeichen zum Abbruch zu geben. Aber da war wieder dieser Wunsch in Clarisse, sich einzumengen! Irgendwie war er mit dem Trommeln der Antworten immer heftiger geworden, sie konnte plötzlich nicht mehr an sich halten, trat

Weitere Kostenlose Bücher