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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Schlingen an den Bettrand gefesselt, die den Händen nur wenig Spielraum ließen. «Wegen Selbstmordgefahr» erläuterte der Arzt und nannte die Krankheiten: Paralyse, Paranoia, Dementia praecox und andere waren die Rassen, denen diese fremden Vögel angehörten.
    Clarisse fühlte sich anfangs von dem verworrenen Eindruck wieder eingeschüchtert und fand keinen Halt. Und da war es auch wie ein freundliches Zeichen, daß ihr schon von ferne einer lebhaft winkte und ihr Worte entgegenschrie, als sie noch durch viele Betten von ihm getrennt war. Er fuhr in dem seinen hin und her, als wollte er sich verzweifelt befreien, um ihr entgegenzueilen, übertrumpfte den Chor mit seinen Anklagen und Zornausbrüchen und zog Clarissens Aufmerksamkeit immer stärker an sich. Je näher sie ihm kam, desto mehr beunruhigte sie der Eindruck, daß er bloß zu ihr zu sprechen schien, während sie in keiner Weise zu verstehen vermochte, was er ihr ausdrücken wolle. Als sie endlich bei ihm waren, erzählte der Oberwärter dem Arzt etwas so leise, daß Clarisse es nicht verstand, und Friedenthal traf irgendeine Anordnung mit sehr ernstem Gesicht. Dann aber machte er sich einen Scherz und sprach den Kranken an. Der Irre erwiderte nicht gleich darauf, aber plötzlich fragte er: «Wer ist der Herr?» und gab durch eine Bewegung zu verstehen, daß er Clarisse meine. Friedenthal wies auf ihren Bruder und antwortete, dieser sei ein Arzt aus Stockholm. «Nein, dieser!» entgegnete der Kranke und beharrte auf Clarisse. Friedenthal lächelte und behauptete, das sei eine Ärztin aus Wien. «Nein. Das ist ein Herr» widersprach der Kranke und schwieg. Clarisse fühlte ihr Herz schlagen. Auch der hielt sie also für einen Mann!
    Da sagte der Kranke langsam: «Das ist der siebente Sohn des Kaisers.»
    Stumm von Bordwehr stieß Ulrich an.
    «Das ist nicht wahr» gab Friedenthal zur Antwort und setzte das Spiel fort, indem er sich an Clarisse mit der Aufforderung wandte: «Sagen Sie ihm doch selbst, daß er sich irrt.»
    «Es ist nicht wahr, mein Freund» sprach Clarisse leise, die vor Aufregung kaum ein Wort hervorbringen konnte, den Kranken an.
    «Du bist doch der siebente Sohn!» gab er hartnäckig zurück.
    «Nein, nein» versicherte Clarisse und lächelte ihm vor Erregung zu, wie in einer Liebesszene mit Lippen, die vor Lampenfieber ganz steif waren.
    «Du bist es!!» wiederholte der Kranke und sah sie mit einem Blick an, für den sie keine Bezeichnung wußte. Es fiel ihr ganz und gar nichts ein, was sie noch antworten könnte, sie sah hilflos freundlich dem Irren in die Augen, der sie für einen Prinzen hielt, und lächelte immer weiter. In ihr ging dabei etwas Merkwürdiges vor sich: es bildete sich die Möglichkeit, ihm recht zu geben. Es löste sich unter dem Druck seiner wiederholten Behauptung etwas in ihr auf, sie verlor in irgendetwas die Herrschaft über ihre Gedanken, und neue Zusammenhänge bildeten sich, die ihre Umrisse aus Nebeln hervorstreckten: er war nicht der erste, der wissen wollte, wer sie sei, und sie für einen «Herrn» hielt. Aber während sie ihm noch, in diese sonderbare Verbundenheit verfangen, ins Gesicht bückte, von dessen Alter sie sich ebensowenig Rechenschaft gab wie von den anderen Resten des freien Lebens, die noch darin ausgeprägt waren, ging in dem Gesicht und an dem ganzen Menschen etwas gänzlich Unverständliches vor sich. Es sah aus, als würde ihr Blick plötzlich zu schwer für die Augen, auf denen er ruhte, denn in diesen begann ein Gleiten und Fallen. Aber auch die Lippen gerieten in eine lebhafte Bewegung, und wie dicke Tropfen, die immer dichter zusammenflössen, mischten sich in ein flüchtiges Geschnatter vernehmliche Unzüchtigkeiten. Clarisse war von dieser abgleitenden Verwandlung so bestürzt, als entglitte ihr selbst etwas, und machte unwillkürlich eine Bewegung mit beiden Armen zu dem Unseligen hin; und ehe es noch jemand hinderte, sprang ihr da auch der Kranke entgegen: er warf seine Decke ab, kniete im gleichen Augenblick am Bettende und bearbeitete mit der Hand sein Glied, wie Affen in der Gefangenschaft masturbieren. «Treib keine Schweinereien!» sagte rasch und streng der Arzt, und im gleichen Augenblick packten die Wärter den Mann und die Decken und machten im Nu ein reglos liegenbleibendes Bündel aus beiden. Aber Clarisse war dunkelrot geworden: ihr war so wirr wie in einem Lift, wenn man plötzlich das Gefühl unter den Füßen verliert. Es kam ihr plötzlich vor, daß alle Kranken,

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