Gesammelte Werke
rechte Freude mehr an den großen Gedanken der Menschheit; du solltest wieder Schwung hineinbringen. Ich meine: die Zeit bekommt einen neuen Geist, und den solltest du eben in die Hand nehmen!»
«Wie kommst du denn darauf?!» fragte Ulrich mißtrauisch.
«Ich denke es mir halt so.» Stumm überging es und fuhr dringend fort: «Für Ordnung bist du doch auch, das sieht man ja an allem, was du sagst. Und sodann fühle ich mich gefragt: Ist der Mensch mehr gut oder braucht er mehr eine starke Hand? Darin liegt ein gewisses heutiges Bedürfnis nach Entschiedenheit. Alles in allem habe ich dir ja schon gesagt, daß es mir eine Beruhigung wäre, wenn du wieder die Führung in der Aktion übernehmen tätest. Man weiß schließlich doch nicht, was sonst bei dem vielen Reden geschieht!»
Ulrich lachte. «Weißt du, was ich jetzt tue? Ich komm nicht mehr her!» antwortete er glücklich.
«Warum denn?» eiferte Stumm. «Die werden recht behalten, die sagen, daß du nie eine wirkliche Kraft gewesen bist!»
«Wenn ich den Leuten verriete, wie ich denke, würden sie es erst recht sagen!» gab Ulrich lachend zur Antwort und machte sich von seinem Freunde los.
Stumm war ärgerlich, aber dann siegte seine Gutmütigkeit, und er sagte abschiednehmend: «Diese Geschichten sind verdammt kompliziert. Ich habe mir geradezu manchmal gedacht, das Beste wäre schon, wenn über alle diese Unlösbarkeiten einmal ein rechter Trottel käme, ich meine so eine Art Jeanne d’Arc, der könnte uns vielleicht helfen!»
Ulrichs Blick suchte seine Schwester und fand sie nicht. Als er Diotima nach ihr fragte, kamen Leinsdorf und Tuzzi soeben wieder aus der Wohnung und teilten mit, daß ein allgemeiner Aufbruch stattfinde. «Ich habe gleich gesagt,» berichtete Se. Erlaucht aufgeräumt der Hausfrau «was sie geredet haben, ist nicht ihre wahre Meinung gewesen. Und die Drangsal hat dann einen wirklich rettenden Einfall gehabt, es ist nämlich beschlossen worden, die heutige Versammlung ein andermal fortzusetzen. Aber der Feuermaul, oder wie er heißt, wird dabei irgendein langes Gedicht von sich vorlesen, da wird es ruhiger zugehn. Ich habe mir natürlich erlaubt, wegen der Dringlichkeit gleich in Ihrem Namen zuzustimmen!»
Dann erst erfuhr Ulrich, daß sich Agathe plötzlich verabschiedet und ohne ihn das Haus verlassen habe; man richtete ihm aus, daß sie ihn durch ihren Entschluß nicht hätte stören wollen.
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[Schluss des Dritten Teils und Vierter Teil (Aus dem Nachlass)]
[Rowohlt Verlag, Hamburg 1952/1970]
39
Nach der Begegnung
Der Mann, der am Grab des Dichters in Agathes Leben getreten war, Professor August Lindner, sah, talwärts steigend, Bilder der Rettung vor sich.
Hätte sie ihm beim Abschied nachgeblickt, so wäre ihr der stocksteif den steinigen Weg hinabtänzelnde Gang dieses Mannes aufgefallen, denn es war ein eigenartig heiterer, stolzer, und doch ängstlicher Gang. Lindner trug seinen Hut in der Hand und strich sich zuweilen übers Haar; so wohlig frei war ihm zumute geworden.
«Wie wenig Menschen» sprach er zu sich selbst «haben eine wahrhaft mitfühlende Seele!» Er malte sich eine Seele aus, die sich ganz in den Mitmenschen hineinzuversetzen vermöchte, seine verborgensten Schmerzen mitleiden und sich in seine tiefe Schwäche hinablassen könnte: «Welche Aussicht ist das!»rief er sich zu. «Welch eine wunderbare Nähe göttlichen Erbarmens, welcher Trost und welcher Feiertag!» Sodann fiel ihm aber ein, wie wenig Menschen es gebe, die ihrem Nebenmenschen auch nur aufmerksam zuzuhören vermöchten; denn er gehörte zu den Gutgesinnten, die vom Hundertsten ins Hundertstel kommen, ohne einen Unterschied daran zu finden. «Wie wenig ernst gemeint sind zum Beispiel die gewöhnlichen Fragen nach unserem Wohlergehen» dachte er. «Man braucht bloß einmal ausführlich zu antworten, wie einem wirklich ums Herz ist, und sieht sich bald genug einem gelangweilten und geistesabwesenden Blick gegenüber!»
Nun, er hatte sich dieses Fehlers nicht schuldig gemacht! Nach seinen Grundsätzen war, den Schwachen zu schützen, die notwendige und besondere Gesundheitslehre des Starken, der ohne solche wohltuende Selbstbeschränkung allzu leicht der Roheit verfällt; und auch die Bildung bedurfte des Liebeswerks gegen die ihr einwohnenden Gefahren. «Wer uns bedeuten will, was ‹universelle Bildung› sei» bestätigte er sich nun durch innerlichen Zuruf, von einem plötzlich gegen seinen pädagogischen Fachgenossen Hagauer
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