Gesammelte Werke
geschleuderten Blitz köstlich erfrischt – «dem sollte wahrhaftig zuerst geraten werden: erfahre, wie dem anderen zumute ist! Durch Mitleid wissend, es bedeutet tausendmal mehr, als durch Bücher wissend sein!» Anscheinend war es eine alte Meinungsverschiedenheit, was er da einerseits an dem liberalen Begriff der Bildung, andererseits an der Gattin seines Amtsbruders ausließ, denn Lindners Brillen blickten wie zwei Schilde eines doppelgewaltigen Kämpfers in die Runde. In Agathes Gegenwart war er befangen gewesen; wenn sie ihn dagegen jetzt gesehen hätte, wäre er ihr wie ein Offizier vorgekommen, aber wie ein Offizier einer keineswegs leichtsinnigen Truppe. Denn eine wahrhaft männliche Seele ist hilfsbereit, und sie ist hilfsbereit, weil sie männlich ist. Er warf die Frage auf, ob er angesichts der schönen Frau richtig gehandelt habe, und erwiderte sich: «Es wäre falsch, wenn die stolze Forderung der Unterordnung unter das Gesetz denen überlassen bliebe, die zu schwach dafür sind; und es wäre ein entmutigender Anblick, wenn bloß geistlose Pedanten die Hüter und Bildner der Sitte sein dürften; darum ist den Lebendigen und Starken die Pflicht auferlegt, aus ihrem Kraft- und Gesundheitsinstinkt nach Zucht und Grenze zu verlangen: sie müssen die Schwachen stützen, die Gedankenlosen rütteln und die Zügellosen anhalten!» Er hatte den Eindruck, es getan zu haben.
So wie die fromme Seele der Heilsarmee sich der Uniform und militärischer Gebräuche bedient, hatte Lindner gewisse soldatische Gedankenformen in seinen Dienst genommen, ja er scheute nicht einmal vor Zugeständnissen an den «Machtmenschen» Nietzsches zurück, der dem bürgerlichen Geiste jener Zeit noch ein Stein des Anstoßes, Lindner aber auch ein Wetzstein war. Er pflegte von Nietzsche zu sagen, man könne nicht behaupten, daß er ein schlechter Mensch gewesen wäre, wohl aber seien seine Lehren übertrieben und lebensfremd, und der Grund liege darin, daß er das Mitleid verwerfe; denn so habe er nicht die wunderbare Gegengabe des Schwachen erkannt, daß dieser den Starken zart mache! Und seine eigenen Erfahrungen dem nun entgegensetzend, dachte er voll froher Absicht: «Die wahrhaft großen Menschen huldigen keineswegs einem öden Ichkultus, sondern sie erzeugen in den anderen das Gefühl ihrer Erhabenheit dadurch, daß sie sich zu ihnen hinabbeugen, ja, wenn es sein muß, für sie opfern!» Er blickte einem jungen Liebespaar, das, sehr verschlungen, herauf- und ihm entgegenkam, siegesgewiß und mit freundlichem. Tadel, der zur Tugend ermuntern sollte, in die Augen. Es war aber ein recht ordinäres Liebespaar, und der junge Strolch, der seinen männlichen Teil bildete, kniff die Augenlider zusammen, als er diesen Blick erwiderte, streckte unvermittelt die Zunge heraus und sagte: «Bäh!» Lindner, der auf diese Verhöhnung und gemeine Drohung nicht vorbereitet war, erschrak: aber er tat, als bemerke er sie nicht. Er liebte die Tatkraft, und sein Blick suchte nach einem Schutzmann, der in der Nähe sein sollte, die öffentliche Sicherheit der Ehre zu gewährleisten; aber sein Fuß stieß dabei an einen Stein, die hastige Bewegung des Stolperns scheuchte einen Schwarm Sperlinge auf, der sich an Gottes Tisch über einem Haufen Pferdemist gütlich getan hatte, das Aufschwirren der Spatzen warnte Lindner und ließ ihn im letzten Augenblick, ehe er schmählich stürzte, mit einer tänzerisch bemäntelten Bewegung über das Doppelhindernis hinweghüpfen. Er blickte nicht zurück, und nach einer Weile war er sehr zufrieden mit sich. «Fest wie ein Diamant und zart wie eine Mutter muß man sein!» dachte er mit einer alten Definition aus dem siebzehnten Jahrhundert.
Er hätte, da er auch die Tugend der Bescheidenheit schätzte, zu keiner andern Zeit etwas Ähnliches in Ansehung seiner selbst behauptet, aber solche Erregung des Blutes ging von Agathe aus! Hinwieder bildete es den negativen Pol seiner Gefühle, daß dieses himmlisch zarte Weib, das er in Tränen gefunden hatte, wie der Engel die Magd im Tau – oh, er wollte sich nicht überheben, aber wie doch Nachgiebigkeit gegen Poesie gleich überheblich macht! – er fuhr darum strenger fort: daß diese unselige Frau im Begriffe stand, ein in die Hand Gottes abgelegtes Gelübde zu brechen; denn als das sah er ihr Begehren nach Ehescheidung an. Er hatte es ihr leider nicht mit der erforderlichen Entschiedenheit von Angesicht zu Angesicht – Gott, welche Nähe nun wieder in diesen Worten!
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