Gesammelte Werke
unterhalten. «Die wenigsten Männer» rief er erbaut aus «haben eine Ahnung davon, welches tiefe Bedürfnis edle weibliche Wesen nach dem Edel-Mann haben, der schlicht mit dem Menschen in der Frau verkehrt, ohne durch geschlechtliche Gefallsucht gleich gestört zu werden!» Es mußten ihm diese Gedanken Flügel geliehen haben, denn er wußte nicht, wie er zu der Endstelle der elektrischen Straßenbahn gelangt sei, stand aber plötzlich vor ihr und nahm, ehe er einstieg, die Brille ab, um sie von dem Dunst zu reinigen, mit dem sie die erhitzenden inneren Vorgänge beschlagen hatten. Dann schwang er sich in eine Ecke, blickte in dem leeren Wagen um sich, machte das Fahrgeld bereit, sah dem Schaffner ins Gesicht und fühlte sich ganz auf dem Posten, in der bewundernswerten Gemeinschaftseinrichtung, die man Städtische Straßenbahn nennt, die Rückreise anzutreten. Durch ein wohliges Gähnen strömte er die Müdigkeit des Spaziergangs aus, um sich für neue Pflichten zu straffen, und faßte die erstaunlichen Abschweifungen, denen er sich ergeben hatte, in dem Satz zusammen: «Sich selbst zu vergessen, ist doch dem Menschen das Gesündeste, was es gibt!»
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Der Tugut
Es gibt gegen die unberechenbaren Regungen eines leidenschaftlichen Herzens nur ein verläßliches Mittel: streng bis ins letzte eingehaltene Planmäßigkeit; und ihr, die er beizeiten erworben hatte, verdankte Lindner sowohl die Erfolge seines Lebens als auch den Glauben, von Natur ein leidenschaftsstarker und schwer zu disziplinierender Mann gewesen zu sein. Er stand des Morgens früh auf, Sommer und Winter um die gleiche Stunde, und wusch sich an einem kleinen eisernen Waschtisch Gesicht, Hals, Hände und ein Siebentel seines Körpers, jeden Tag natürlich ein anderes, worauf er den übrigen Körper mit einem nassen Handtuch abrieb, so daß das Bad, dieser zeitraubende und wollüstige Vorgang, auf einen Abend aller zwei Wochen beschränkt werden konnte. Es lag darin ein kluger Sieg über die Materie; und wer je Gelegenheit gehabt hat, die unzureichenden Waschgelegenheiten und unbequemen Betten zu betrachten, mit denen sich historisch gewordene Persönlichkeiten begnügt haben, der wird sich kaum der Mutmaßung entschlagen können, daß zwischen eisernen Betten und eisernen Männern ein Zusammenhang bestehen müsse, wenn wir ihn auch nicht übertreiben wollen, da wir sonst gleich auf Nägelbetten schlafen dürften. Hier war dem Nachdenken also überdies eine vermittelnde Aufgabe gestellt, und nachdem sich Lindner im Widerschein anregender Beispiele gewaschen hatte, nützte er denn auch das Abtrocknen nur mit Maß dazu aus, dem Körper durch geschickte Benutzung des Handtuches einige Bewegung zu geben. Ist es doch eine verhängnisvolle Verwechslung, die Gesundheit auf den tierischen Teil des Menschen zu gründen, geistiger und sittlicher Adel sind es vielmehr, woraus die körperliche Widerstandsfähigkeit hervorgeht; und wenn das auch nicht immer auf den einzelnen zutrifft, so trifft es dafür umso sicherer im großen zu, denn die Kraft eines Volkes ist die Folge des rechten Geistes, und nicht gilt es umgekehrt. Lindner hatte darum seinen Abreibungen auch eine besondere und sorgfältige Ausbildung angedeihen lassen, die es vermied, mit rücksichtslosem Zugreifen den üblichen männlichen Götzendienst zu treiben, dafür, aber die ganze Persönlichkeit beteiligte, indem er die Bewegungen seines Körpers mit schönen inneren Aufgaben verband. Er verabscheute besonders die halsbrecherische Anbetung der Schneidigkeit, die, von außen kommend, nun auch schon in seinem Vaterland manchem als Ideal vorschwebte; und sich von ihr abzuwenden, gehörte ganz und gar zu seinen Morgenübungen. Er ersetzte sie bei diesen mit großer Umsicht durch ein staatsmännischeres Verhalten im turnerischen Gebrauch seiner Gliedmaßen und verband Anspannung der Willenskraft mit rechtzeitiger Nachgiebigkeit, Schmerzüberwindung mit verständiger Menschlichkeit, und wenn er als abschließende Mutübung etwa über einen umgelegten Stuhl sprang, so geschah es mit ebenso viel Zurückhaltung wie Selbstvertrauen. Eine solche Entfaltung des ganzen Reichtums an menschlichen Anlagen machte ihm seine Leibesübungen, seit er sie vor einigen Jahren aufgenommen hatte, zu wahren Tugendübungen.
Soviel wäre im Fluge aber auch gegen den Ungeist vergänglicher Selbstbehauptung zu sagen, der sich, unter dem Schlagwort der Körperpflege, des an sich gesunden Gedankens des Sports bemächtigt
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