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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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ändern werde.»
    Der General rief aus: «Das ist der Wortlaut! So habe auch ich ihn schon gehört! Sind ja ekelerregend, diese geistigen Debatten!»
    Arnheim sagte milde: «Es ist der Wunsch der heutigen Jugend nach Festigkeit und Führung.»
    «Aber es ist doch nicht nur Jugend dabei,» entgegnete Stumm angewidert «sondern selbst Kahlköpfe sind zustimmend herumgestanden!»
    «Dann ist es eben das Bedürfnis nach Führung überhaupt» meinte Arnheim und nickte freundlich. «Es ist heute allgemein. Die Resolution stammt übrigens aus einem zeitgenössischen Buch, wenn ich mich recht entsinne.»
    «So?» sagte Stumm.
    «Ja» sagte Arnheim. «Und man muß sie natürlich als ungeschehen behandeln. Aber wenn man es verstünde, das seelische Bedürfnis, das sich in ihr ausdrückt, nutzbar zu machen, so würde sich das wohl lohnen.»
    Der General zeigte sich etwas beruhigt; er wandte sich an Ulrich: «Hast du eine Idee, was man da tun könnte?»
    «Natürlich!» erwiderte Ulrich.
    Arnheims Aufmerksamkeit wurde durch Diotima abgelenkt.
    «Also bitte!» sagte der General leise. «Schieß los! Ich würde es ja vorziehen, wenn die Führung unter uns bliebe!»
    «Du mußt dir vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen ist» sagte Ulrich, ohne sich zu beeilen. «Die Leute haben ja gar nicht unrecht, wenn der eine dem andern vorwirft, daß er lieben möchte, wenn er bloß könnte, und der andere dem einen zurückgibt, daß ganz das gleiche doch auch vom Hassen gilt. Es gilt überhaupt von allen Gefühlen. Der Haß hat heute etwas Verträgliches in sich, und anderseits müßte man, um das, was wirklich Liebe wäre, für einen Menschen zu empfinden –: ich behaupte,» sagte Ulrich kurz «daß diese zwei Menschen noch nicht da waren!»
    «Das ist sicher sehr interessant,» unterbrach ihn der General schnell, «denn ich kann absolut nicht verstehn, wie du das behaupten kannst. Aber ich muß morgen einen Rechenschaftsbericht über die heutigen Vorfälle schreiben, und darum beschwöre ich dich, daß du darauf Rücksicht nimmst! Beim Militär ist das Wichtigste, daß man immer einen Fortschritt melden kann; ein gewisser Optimismus ist da selbst in der Niederlage unentbehrlich, das liegt am Metier: Wie kann ich also das, was geschehen ist, als einen Fortschritt darstellen?!»
    «Schreib» riet Ulrich augenzwinkernd: «Es war die Rache der moralischen Phantasie!»
    «Aber so was kann man beim Militär doch nicht schreiben!» erwiderte Stumm ärgerlich.
    «Dann laß das Wort weg» fuhr Ulrich ernst fort «und schreib: Alle schöpferischen Zeiten sind ernst gewesen. Es gibt kein tiefes Glück ohne tiefe Moral. Es gibt keine Moral, wenn sie sich nicht von etwas Festem ableiten läßt. Es gibt kein Glück, das nicht auf einer Überzeugung ruht. Ohne Moral lebt nicht einmal das Tier. Aber der Mensch weiß heute nicht mehr, mit welcher –»
    Stumm unterbrach auch dieses scheinbar gleichmütig fließende Diktat: «Lieber Freund, ich kann von der Moral einer Truppe sprechen, von Gefechtsmoral oder von der Moral eines Frauenzimmers; aber immer im einzelnen; und von Moral ohne eine solche Vorsicht kann man in einem militärischen Dienststück genau so wenig sprechen wie von Phantasie und vom lieben Gott: das weißt du doch selbst!»
    Diotima sah Arnheim am Fenster ihrer Küche stehn, ein sonderbar heimlicher Anblick, nachdem sie während des ganzen Abends nur vorsichtige Worte miteinander gewechselt hatten. Sie empfand dabei plötzlich das widerspruchsvolle Verlangen, das abgebrochene Gespräch mit Ulrich fortzusetzen. In ihrem Kopf herrschte jene angenehme Verzweiflung, die sich, in mehreren Richtungen gleichzeitig einbrechend, fast zu einer freundlich-ruhigen Erwartung geschwächt und aufgehoben hat. Der längst vorhergesehene Zusammenbruch des Konzils war ihr gleichgültig. Arnheims Untreue war ihr, wie sie glaubte, auch beinahe gleichgültig. Er sah ihr entgegen, als sie eintrat, und für einen Augenblick war das alte Gefühl da: lebender Raum, der sie verband. Aber sie erinnerte sich wieder, daß ihr Arnheim seit Wochen ausweiche, und der Gedanke: «Erotischer Feigling!» gab ihren Knien die Kraft zurück, daß sie hoheitsvoll auf ihn zuschritt. Arnheim sah das: das Sehen, das Zaudern, das Schmelzen der Entfernung; über eingefrorenen Wegen, die sie in unendlicher Zahl verbanden, lag die Ahnung, daß sie wieder auftauen könnten. Er hatte sich von den übrigen abgewandt, aber im letzten Augenblick machten er und Diotima eine Wendung, die

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