Gesammelte Werke
Begreift man doch auch diese nicht, wenn man in ihr bloß eine Gelegenheit zu etwas Schwärmerei sieht, die bei Tag besser unterdrückt bleibt, muß sich vielmehr, wenn man das Richtige bemerken will, das ganz Unglaubliche vergegenwärtigen, daß sich auf einem Stück Erde wirklich alle Gefühle wie verzaubert ändern, sobald es aus der leeren Geschäftigkeit des Tags in die empfindungsvolle Körperlichkeit der Nacht taucht! Nicht nur schmelzen die äußeren Verhältnisse dahin und bilden sich neu im flüsternden Beilager von Licht und Schatten, sondern auch die inneren rücken auf eine neue Weise zusammen: Das gesprochene Wort verliert seinen Eigensinn und gewinnt Nachbarsinn. Alle Versicherungen drücken nur ein einziges flutendes Erlebnis aus. Die Nacht schließt alle Widersprüche in ihre schimmernden Mutterarme, und an ihrer Brust ist kein Wort falsch und keines wahr, sondern jedes ist die unvergleichliche Geburt des Geistes aus dem Dunkel, die der Mensch in einem neuen Gedanken erfährt. So hat jeder Vorgang in Mondnächten die Natur des Unwiederholbaren. Er hat die Natur des Gesteigerten. Er hat die der uneigennützigen Freigebigkeit und Entäußerung. Jede Mitteilung ist eine neidlose Teilung. Jedes Gehen ein Empfangen. Jede Empfängnis vielseitig verflochten in die Erregung der Nacht. So zu sein, es ist der einzige Zugang zum Wissen dessen, was vor sich geht. Denn das Ich behält in diesen Nächten nichts zurück, keine Verdichtung des Besitzes an sich selbst, kaum eine Erinnerung; das gesteigerte Selbst strahlt in eine grenzenlose Selbstlosigkeit hinein. Und diese Nächte sind voll des unsinnigen Gefühls, daß etwas geschehen werde, wie es noch nie dagewesen sei, ja wie es sich die verarmte Vernunft des Tages nicht einmal vorstellen könne. Und nicht der Mund schwärmt, sondern der Körper, vom Kopf bis zu den Füßen, ist über dem Dunkel der Erde und unter dem Licht des Himmels in eine Erregung eingespannt, die zwischen zwei Gestirnen schwingt. Und das Flüstern mit den Gefährten ist voll einer ganz unbekannten Sinnlichkeit, die nicht die Sinnlichkeit einer Person ist, sondern die des Irdischen, des in die Empfindung Dringenden überhaupt, die plötzlich enthüllte Zärtlichkeit der Welt, die unaufhörlich alle unsere Sinne berührt und von unseren Sinnen berührt wird.
Wohl hatte Ulrich nie eine besondere Vorliebe zum Mondscheinschwärmen an sich wahrgenommen; doch wie man gewöhnlich das Leben ohne Gefühl hinunterschlingt, so hat man manchmal viel später seinen geisterhaft gewordenen Geschmack auf der Zunge; und derart fühlte er alles, was er an solcher Schwärmerei versäumt hatte, alle achtlos und einsam, ehe er seine Schwester kannte, verbrachten Nächte plötzlich als silberübergossenes unendliches Gebüsch, als Mondflecken im Gras, als hangende Apfelbäume, singenden Frost und vergoldete Schwarzwässer wieder. Es waren lauter Einzelheiten, die nicht zusammenhingen und nie beisammen gewesen waren, die sich nun aber wie der Duft vermengten, der aus vielerlei Kräutern eines berauschenden Getränks aufsteigt. Und als er das Agathe sagte, fühlte sie es auch.
Darum faßte Ulrich das alles, was er gesagt hatte, schließlich zu der Behauptung zusammen: «Was uns mit dem ersten Augenblick einander zugewandt hat, ließe sich recht ein Leben der Mondnächte nennen!» Und Agathe atmete tief auf. Das mochte heißen, was es wolle; und wahrscheinlich hieß es: Warum weißt du aber nicht auch einen Zauber dagegen, daß es uns im letzten Augenblick trennt?! Sie seufzte so natürlich und vertraulich, daß sie nicht einmal selbst davon wußte.
Und wieder hob damit eine Bewegung an, die sie zueinander neigte und auseinander hielt. Jede starke Erregung, die zwei Menschen gemeinsam bis ans Ende erlebt haben, hinterläßt in ihnen die nackte Vertraulichkeit der Erschöpfung; selbst der Streit tut das, und umwieviel mehr nicht die Zärtlichkeit von Gefühlen, die das Mark schier zu einer Flöte aushöhlen! So hätte nun auch Ulrich, als er sie wortlos klagen hörte, Agathe beinahe doch gerührt umarmt, und entzückt wie ein Liebhaber am Morgen nach den ersten Stürmen. Seine Hand berührte schon ihre Schulter, die noch immer entblößt war, und sie zuckte bei dieser Berührung lächelnd zusammen; aber in ihren Augen zeigte sich auch gleich wieder die ungewollte Abmahnung. Sonderbare Bilder entstanden nun in seinem Kopf: Agathe hinter Gittern. Oder sie, aus wachsender Entfernung ihm ängstlich winkend, von der
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