Gesammelte Werke
einen Hang zur Oberfläche, was sich in dem Wort «Begreifen» überdies ausspreche und damit zusammenhänge, daß die ursprünglichen Erlebnisse ja nicht einzeln, sondern eines am andern verstanden und dadurch unvermeidlich mehr in die Fläche als in die Tiefe verbunden würden. Er fuhr dann fort: «Wenn ich also behaupte, dieser Rasen hier vor uns sei grün, so klingt das sehr bestimmt, aber ich habe nicht eben viel gesagt. In Wahrheit nicht mehr, als wenn ich dir von einem vorbeigehenden Mann erzählt hätte, er gehöre der Familie Grün an. Und, du lieber Himmel, wie viele Grün gibt es! Da ist es gleich besser, ich begnüge mich mit der Erkenntnis, dieser grüne Rasen sei eben rasengrün, oder gar er sei grün wie ein Rasen, auf den es vor kurzem ein wenig geregnet hat –» Er blinzelte träg über die junge sonnenbeschienene Grasfläche und meinte: «So möchtest du es doch wahrscheinlich wirklich beschreiben, denn du bist von Kleiderstoffen im Anschaulichen geübt. Ich dagegen könnte die Farbe vielleicht auch messen: Sie dürfte schätzungsweise eine Wellenlänge von fünfhundertvierzig Millionstelmillimetern besitzen; und da wäre dieses Grün nun doch scheinbar gefangen und auf einen bestimmten Punkt angenagelt! Da entspringt es mir aber auch schon, denn sieh: an dieser Bodenfarbe ist doch auch etwas Stoffliches, das sich mit Farbworten überhaupt nicht bezeichnen läßt, weil es anders ist als das gleiche Grün in Seide oder Wolle. Und nun sind wir wieder bei der tiefen Erleuchtung, daß grünes Gras eben grasgrün ist!»
Agathe fand es, zum Zeugen angerufen, sehr verständlich, daß man nichts verstehen könne, und entgegnete: «Ich rate dir, sieh einmal einen Spiegel in der Nacht an: er ist dunkel, er ist schwarz, du siehst beinahe überhaupt nichts; und doch ist dieses Nichts ganz deutlich etwas anderes als das Nichts der übrigen Finsternis. Du ahnst das Glas, die Verdopplung der Tiefe, irgendeine noch zurückgebliebene Fähigkeit zu schimmern – und doch gewahrst du gar nichts!»
Ulrich lachte über die Bereitwilligkeit seiner Schwester, dem Wissen gleich die Ehre ganz abzuschneiden; er meinte beiweitem nicht, daß Begriffe keinen Wert hätten, und wußte wohl, was sie leisten, auch wenn er nicht gerade so tat. Was er ausheben wollte, war das Unfaßbare der Einzelerlebnisse, der Erlebnisse, die man aus einem naheliegenden Grund allein und einsam bestehen muß, auch wenn man zu zweien ist. Er wiederholte: «Das Ich erfaßt ja seine Eindrücke und Hervorbringungen niemals einzeln, sondern immer in Zusammenhängen, in wirklicher oder gedachter, ähnlicher oder unähnlicher Übereinstimmung mit anderem; so lehnt alles, was Namen hat, aneinander in Hinsichten, in Fluchten, als Glied von großen und unüberblickbaren Gesamtheiten, eins auf das andere gestützt und von gemeinsamen Spannungen durchzogen. Aber darum steht man auch,» fuhr er plötzlich anders fort «wenn aus irgendeinem Anlaß diese Zusammenhänge versagen und keine der inneren Ordnungsreihen anspricht, allsogleich wieder vor der unbeschreiblichen und unmenschlichen, ja vor der widerrufenen und formlosen Schöpfung!» Damit waren sie denn wieder an den Punkt zurückgekehrt, von wo sie ausgegangen; aber Agathe fühlte darüber die dunkle Schöpfung, den Abgrund Welt, den Gott, der ihr helfen sollte!
Ihr Bruder sagte: «Das Verstehen macht einem unstillbaren Staunen Platz, und das geringste Erlebnis – dieses Fähnchen Gras oder die sanften Laute, wenn deine Lippen da drüben ein Wort aussprechen wird unvergleichbar, welteinsam, hat eine unergründliche Selbstischkeit und strömt eine tiefe Betäubung aus ...!»
Er schwieg, drehte einen Grashalm unschlüssig in der Hand und horchte erfreut zu, wie Agathe, scheinbar so unzergrübelt wie ungründlich, die Leiblichkeit des Gesprächs wiederherstellte. Denn sie erwiderte jetzt: «Wenn es trockener wäre, möchte ich mich auf den Rasen legen! Laß uns fortreisen! Ich wollte so gern auf einer Wiese liegen, bescheiden zur Natur zurückgekehrt wie ein weggeworfener Schuh!»
«Aber das heißt auch nur, aus allen Gefühlen entlassen sein» wandte Ulrich ein. «Und Gott allein mag wissen, was aus uns werden sollte, wenn nicht auch sie in Scharen aufträten, diese Lieben und Hasse und Leiden und Güten, die scheinbar jedem allein gehören. Wir wären wohl aller Fähigkeiten des Handelns und Denkens beraubt, denn unsere Seele ist für das geschaffen, was sich wiederholt, und nicht für das, was ganz
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