Dustlands - Der Herzstein: Roman (German Edition)
Jack
E s ist später Nachmittag. Seit dem Morgen folgt der Pfad einer Reihe von Lichtmasten. Besser gesagt, den eisernen Überresten von dem, was einmal Lichtmasten waren, damals zur Zeit der Abwracker, vor undenklichen Zeiten. Er schlängelt sich durch ausgebleichte faltige Hügel, verbranntes Gras und Dornensträucher.
Die Hochsommerhitze sengt auf seinen Kopf herab. Sein Hut ist schweißfeucht. Der Staub langer Tage klebt an seiner Haut, seiner Kleidung, seinen Stiefeln. Er schmeckt ihn, als er sich über die trockenen Lippen leckt. Bisher ist es eine Reise durch ausgedörrtes, unwirtliches Land gewesen. Er erklimmt einen Bergrücken, dann geht es hinab in ein kleines Tal, und plötzlich ist alles frisch und grün. Die Luft ist mild. Erfüllt vom süßlichen Duft der verstreut auf den Hängen wachsenden niedrigen Kiefern.
Jack zügelt sein Pferd. Er atmet ein. Ein langer, tiefer, dankbarer Atemzug. Er nimmt die Aussicht in sich auf. Den gerodeten Talboden und den kleinen See, der in der Sonne glitzert.
Am See steht eine Hütte mit einem Dach aus Rinde und Grassoden, der Rest ist aus Abwrackerschrott, Steinen, getrocknetem Lehm und dem ein oder anderen Baumstamm zusammengebaut. Ein Mann, eine Frau und ein Mädchen arbeiten auf den ordentlich bestellten Feldern.
Menschen. Endlich. Abgesehen von Atlas, dem weißen Mustang, hat er seit Tagen mit niemandem gesprochen. Allmählich macht ihm die Einsamkeit zu schaffen.
»Und ich hab schon gedacht«, sagt er laut, »ich bin der einzige Mensch auf der Welt.«
Vor sich hinpfeifend reitet er weiter. Als sie ihre Arbeit niederlegen und ihm entgegenkommen, ruft er einen Gruß. Sie sind nicht besonders freundlich. Ihre Gesichter sehen müde aus. Ihre Blicke sind misstrauisch. Sie sind an Gesellschaft kaum gewöhnt, nehmen nicht viel Anteil an der Außenwelt und haben wenig zu sagen. Macht nichts. Schon ihr Anblick und die verlegene, größtenteils von ihm bestrittene Unterhaltung tun ihm unendlich gut.
Der Mann ist völlig erschöpft. Die Frau ist krank. Sterbenskrank, wenn er sich nicht sehr täuscht. Mit gelblicher Haut, die Lippen vor Schmerz fest aufeinandergepresst. Das Mädchen ist recht kräftig, etwa vierzehn. Sie starrt auf ihre Stiefel. Still, sogar wenn sie spricht. Aber als ihr Bruder aus der Hütte gerannt kommt und ihren Namen ruft: »Nessa! Nessa!«, strahlt ihr unscheinbares Gesicht vor Liebe.
Er ist ein fröhliches Kind, ein Sonnenscheinchen. Ein Vierjähriger namens Robbie mit runden Augen und nackten Füßen. Seine Familie betrachtet ihn mit liebevollem Staunen und kann ganz offensichtlich ihr Glück kaum fassen. Robbie lehnt sich an die Beine seiner Schwester, lutscht energisch am Daumen und mustert Jack. Den ramponierten Hut mit der breiten Krempe. Die silbergrauen Augen. Das schmale, gebräunte Gesicht, das seit Wochen kein Rasiermesser mehr gesehen hat. Den langen staubigen Mantel und die abgetragenen Stiefel. Die Armbrust auf dem Rücken, den gut bestückten Waffengürtel: Bolzenschießer, Langmesser, Bola, Schleuder.
»Buh!«, macht Jack. Robbie bleibt der Mund offen stehen. Der Daumen fällt heraus.
Jack knurrt. Der Junge quietscht vergnügt und rennt davon Richtung See. Nessa jagt ihm hinterher. Das Tal hallt wider von ihren Schreien und ihrem Lachen.
Es sind keine geselligen Leute, aber sie sind auch nicht geizig. Sie sorgen dafür, dass sein Pferd getränkt, abgerieben und gefüttert wird. Sie bieten ihm einen Schlafplatz für die Nacht an, aber er hat es eilig. Als er weiterreitet, sinkt die Dämmerung herab. Es sind hart arbeitende Menschen, Frühaufsteher. Sie gehen sicher ins Bett, sobald er fort ist.
Seiner Schätzung nach dürften es von hier bis zum Sturmgürtel nicht mehr als drei Tagesritte sein. Und dorthin ist er unterwegs. Zum Sturmgürtel, zu einer Schenke namens The Lost Cause und einer alten Freundin namens Molly. Er ist der Überbringer schlechter Nachrichten. Der allerschlimmsten. Je eher er sie überbringt, desto eher kann er kehrtmachen, wieder zurück und weiter nach Westen reiten. Nach Westen. Zum Großen Wasser. Denn dort ist sie. Dort hat er versprochen, sich mit ihr zu treffen. Er zieht den Stein hervor, den er an einem Lederband um den Hals trägt. Er ist glatt und liegt kühl in der Hand. Hell rosarot. Wie ein Vogelei geformt, etwa daumenlang.
Es ist ein Herzstein. Er führt einen zu dem, was das Herz sich wünscht, heißt es. Sie hat ihn ihm gegeben. Er wird nach Westen reiten und sie finden.
Saba.
Er wird
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