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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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trennenden Gewalt fremder Fäuste fortgerissen. Dann wieder war er selbst nicht nur der ohnmächtig Verabschiedete, sondern ähnlich auch der Trennende ... Vielleicht waren das ewige Bilder des Liebeszweifels, bloß im Durchschnittsleben verbraucht, vielleicht auch nicht. Er hätte gerne davon zu ihr gesprochen, doch blickte Agathe jetzt von ihm weg und zu dem offenen Fenster hin und stand zögernd auf. Das Fieber der Liebe war in ihren Körpern, aber diese wagten keine Wiederholung, und jenseits des Fensters, dessen Vorhänge fast offenstanden, befand sich das, was ihnen die Einbildungskraft entführt hatte, ohne die das Fleisch nur roh oder mutlos ist. Als Agathe die ersten Schritte in diese Richtung tat, löschte Ulrich, ihr Einverständnis erratend, das Licht aus, um den Blick in die Nacht freizumachen. Der Mond war hinter den Fichtenwipfeln emporgekommen, deren grün glimmendes Schwarz sich schwerblütig von der goldblauen Höhe und der blaß glitzernden Weite abhob. Unwillig musterte Agathe das tiefe, kleine Stück Welt.
    «Also doch nicht mehr als Mondscheinromantik?!» fragte sie.
    Ulrich sah sie ohne Antwort an. Ihr blondes Haar wurde im Halbdunkel neben der weißlichen Nacht feurig, ihre Lippen waren von Schatten geöffnet, ihre Schönheit war schmerzlich und unwiderstehlich. Wahrscheinlich stand aber auch er ähnlich vor ihrem Blick, mit blauen Augenhöhlen in weißem Gesicht, denn sie fuhr fort: «Weißt du, wie du jetzt aussiehst? Wie der ‹Pierrot Lunaire›! Es mahnt zur Vorsicht!» Sie wollte ihm ein wenig Unrecht antun, in ihrer Erregung, die sie beinahe weinen machte. In der bleichen Maske des mondlich-einsamen Pierrots waren sich vor Zeiten doch alle jungen unnützen Leute schmerzvoll-launisch vorgekommen, kreidebleich gepudert bis auf die blutstropfenroten Lippen und von einer Kolombine verlassen, die sie niemals besessen hatten; es drückte also die Vorliebe für Mondnächte beträchtlich ins Lächerliche hinab. Aber Ulrich pflichtete, zu seiner Schwester anfangs größer werdendem Weh, bereitwillig bei. «Auch das ‹Lache Bajazzo!› hat schon tausenden Spießbürgern den Rücken kalt vor innerster Zustimmung gemacht, wenn sie es singen hörten» versicherte er bitter. Dann aber fügte er leise und einflüsternd hinzu: «Dieser ganze Gefühlskreis ist eben verdächtig! Und doch siehst du in diesem Augenblick so aus, daß ich alle Erinnerungen meines Lebens dafür hingeben möchte!» Agathes Hand hatte die Ulrichs gefunden. Ulrich fuhr leise und leidenschaftlich fort: «Unsere Zeit versteht unter der Seligkeit des Gefühls bloß das Gefühlsselige und hat den Mondrausch zu einer sentimentalen Ausschweifung entwürdigt. Ihr ahnt nicht recht, daß er entweder eine unverständliche geistige Störung sein müßte oder das Fragment eines anderen Lebens ist!»
    Diese Worte – gerade weil sie vielleicht übertrieben – hatten den Glauben und damit die Flügel des Abenteuers. «Gute Nacht!» sagte Agathe unerwartet und nahm sie mit sich. Sie hatte sich losgemacht und zog den Vorhang so hastig zu, daß das Bild der beiden im Mondschein Stehenden wie auf einen Schlag verschwand; und ehe Ulrich Licht machte, gelang es ihr, aus dem Zimmer zu finden.
    Ulrich ließ ihr überdies Zeit. «Du wirst in dieser Nacht so ungeduldig schlafen wie vor dem Aufbruch zu einem großen Ausflug» rief er ihr nach.
    «Ich will es auch tun!» klang als Antwort in das Schließen der Tür.
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46
    Mondstrahlen bei Tage
    Als sie sich am Morgen wiedersahen, war es von weitem zuerst so, wie man in einer gewöhnlichen Wohnung auf ein ungewöhnliches Bild stößt, ja wie man in der frei zerstreuten Natur ein bedeutendes Bildwerk sichtet; da erhebt sich unvermutet in sinnlicher Verwirklichung eine Insel der Bedeutung, eine Erhöhung und Verdichtung des Geistes aus der flüssigen Niederung des Daseins! Als sie dann aber aufeinander zutraten, waren sie befangen, und von der vergangenen Nacht war in ihren Blicken nur die Ermattung zu spüren, die sie mit zärtlicher Wärme beschattete.
    Wer weiß, ob die Liebe übrigens ebenso bewundert würde, wenn sie nicht müde machte! Als sie die Nachwehen der gestrigen Aufregung gewahrten, beglückte es sie von neuem, wie Liebesleute stolz darauf sind, daß sie vor Lust fast gestorben wären. Trotzdem war die Freude, die sie aneinander fanden, nicht nur ein solches Gefühl, sondern war auch eine Erregung des Auges: Die Farben und Formen, die sie sich darboten, waren aufgelöst und grundlos,

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