Gesammelte Werke
entlegen von Kraft und Zwang vor; man hätte es vielleicht wieder mit der wundersamen Inbrunst eines Bildes vergleichen können, das für die Hand, die es von außen ergreift, nichts als eine lächerliche, angestrichene Fläche ist. So hatten sie denn auch nichts im Sinn als den leiblichen Vorgang, der ihr Bewußtsein ganz erfüllte, und doch besaß er neben seiner Natur als harmloser, ja anfangs sogar etwas derber Scherz, der alle Muskeln in Bewegung setzte, eine zweite Natur, die äußerst zart alle Gliedmaßen lähmte und zugleich mit einer unsagbaren Empfindlichkeit umstrickte. Sie schlangen fragend einander die Arme um die Schultern. Der geschwisterliche Wuchs der Körper teilte sich ihnen mit, als stiegen sie aus einer Wurzel auf. Sie sahen einander so neugierig in die Augen, als sähen sie dergleichen zum erstenmal. Und obwohl sie das, was eigentlich vorgegangen sei, nicht hätten erzählen können, weil ihre Beteiligung daran zu inständig war, glaubten sie doch zu wissen, daß sie sich soeben unversehens einen Augenblick inmitten dieses gemeinsamen Zustands befunden hätten, an dessen Grenze sie schon so lange gezögert, den sie einander schon so oft beschrieben und den sie doch immer nur von außen geschaut hatten.
Prüften sie es nüchtern, und verstohlen taten sie das beide, so bedeutete es freilich kaum mehr als einen reizenden Zufall und hätte sich im nächsten Augenblick, oder wenigstens mit der Wiederkehr einer Beschäftigung, in nichts auflösen sollen; trotzdem geschah das nicht. Im Gegenteil, sie verließen das Fenster, machten Licht, nahmen ihre Tätigkeit wieder auf, standen aber doch bald von ihr ab; und ohne daß sie sich darüber hätten verständigen müssen, ging Ulrich an den Fernsprecher und teilte dem Hause, wo sie erwartet wurden, mit, daß sie nicht kämen. Er hatte da schon den Abendanzug an, aber Agathes Kleid hing noch ungeschlossen die Schulter hinab, und sie bemühte sich eben erst, ihrem Haar eine gesittete Ordnung zu geben. Der technische Beiklang seiner Stimme im Gerät und die Verbindung mit der Welt, die sich herstellte, hatten Ulrich nicht im geringsten ernüchtert; er setzte sich seiner Schwester gegenüber, die in ihrer Beschäftigung einhielt, und nichts war, als ihre Blicke einander da begegneten, so gewiß, wie daß die Entscheidung gefallen sei und jedes Verbot ihnen nun gleichgültig wäre. Trotzdem kam es anders. Ihr Einverständnis tat sich ihnen mit jedem Atemzug kund; es war ein trotzig erlittenes, sich endlich vom Unmut der Sehnsucht zu erlösen, und es war ein so süß erlittenes, daß sich die Vorstellungen der Verwirklichung beinahe von ihnen losrissen und sie schon in der Einbildung vereinten, wie der Sturm einen Schaumschleier den Wellen voranpeitscht: aber ein noch größeres Verlangen gebot ihnen Ruhe, und sie vermochten nicht, noch einmal aneinander zu rühren. Sie wollten es beginnen, aber die Gebärden des Fleisches waren ihnen unmöglich geworden, und sie fühlten eine unbeschreibliche Warnung, die mit den Geboten der Sitte nichts zu tun hatte. Es schien sie aus der Welt der vollkommeneren, wenn auch noch schattenhaften Vereinigung, von der sie zuvor wie in einem schwärmerischen Gleichnis genossen hatten, ein höheres Gebot getroffen, eine höhere Ahnung, Neugierde oder Voraussicht angehaucht zu haben.
Die Geschwister verharrten nun verwirrt und nachdenklich, und nachdem sie ihre Empfindungen besänftigt hatten, fingen sie zögernd zu sprechen an.
Ulrich sagte sinnlos, wie man in die Luft spricht: «Du bist der Mond –»
Agathe verstand es.
Ulrich sagte: «Du bist zum Mond geflogen und mir von ihm wiedergeschenkt worden –»
Agathe schwieg: Mondgespräche sind so von ganzem Herzen verbraucht.
Ulrich sagte: «Es ist ein Gleichnis. ‹Wir waren außer uns›, ‹Wir hatten unsere Körper vertauscht, ohne uns zu berühren›, sind auch Gleichnisse! Aber was bedeutet ein Gleichnis? Ein wenig Wirkliches mit sehr viel Übertreibung. Und doch wollte ich schwören, so wahr es unmöglich ist, daß die Übertreibung sehr klein und die Wirklichkeit fast schon ganz groß gewesen ist!»
Er sprach nicht weiter. Er dachte: «Von welcher Wirklichkeit spreche ich» Gibt es eine zweite?»
Verläßt man hier das Gespräch der Geschwister, um einer Vergleichsmöglichkeit zu folgen, von der es zumindest mitbestimmt wurde, so wäre wohl zu sagen, daß diese Wirklichkeit fürwahr am nächsten mit der abenteuerlich veränderten in Mondnächten verwandt war.
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