Gesammelte Werke
wirklichen Umgebung etwas geändert hätte, «wovon sie sich leicht überzeugen konnte, war alles auf diese Verbindung als Achse bezogen und dadurch in einer sichtbaren Weise unsichtbar verändert. Es mochte widerspruchsvoll klingen; sie hätte aber ebensogut auch sagen können, daß die Welt dort süßer sei, vielleicht auch leidvoller: das Merkwürdige war, daß man es mit den Augen zu sehen meinte. Überdies lag etwas Auffälliges darin, daß alle die umgebenden Gestalten auf das unheimlichste verlassen dastanden, aber auch, auf das unheimlichste entzückend, belebt waren, in dem Anschein eines zarten Todes oder einer leidenschaftlichen Ohnmacht, als wären sie soeben von etwas Unnennbarem verlassen worden, was ihnen eine geradezu menschliche Sinnlichkeit und Empfindlichkeit verlieh. Und etwas Ähnliches wie am Eindruck des Raums hatte sich überdies am Gefühl der Zeit ereignet; dieses fließende Band, die rollende Treppe mit ihrer unheimlichen Nebenbeziehung zum Tod schien in manchen Augenblicken stillzustehen, und in manchen floß sie ohne Verbindung dahin. Während eines einzigen äußeren Augenblicks konnte sie innen verschwunden sein, ohne eine Spur davon, ob sie eine Stunde oder eine Minute ausgesetzt habe.
Einmal überraschte Ulrich seine Schwester bei diesen Versuchen und erriet wohl etwas von ihnen, denn er sagte leise und lächelnd: «Es gibt eine Weissagung, daß für die Götter ein Jahrtausend nicht mehr als ein Öffnen und Schließen ihres Auges sei!» Dann lehnten sie sich beide wieder zurück und hörten weiter den Traumreden der Stille zu.
Agathe dachte: «Alles das hat bloß er zustande gebracht; und doch zweifelt er jedesmal, wenn er lächelt!» Aber die Sonne fiel mit ihrer beständig niederkommenden Wärme zart wie ein Schlafmittel auf seine geöffneten Lippen, das fühlte Agathe an den ihren und wußte sich eins mit ihm. Sie versuchte sich in ihn hineinzuversetzen und seine Gedanken zu erraten, was zwischen ihnen eigentlich als unerlaubt galt, weil es von außen kam und nicht aus der schöpferischen Teilnahme; als eine Abweichung aber umso heimlicher war. «Er will nicht, daß es bloß eine Liebesgeschichte werden soll!» dachte sie; und fügte hinzu: «Das ist auch mein Geschmack.» Und gleich darauf dachte sie: «Er wird keine andre Frau nach mir lieben, denn dies ist keine Liebesgeschichte mehr; das ist überhaupt die letzte Liebesgeschichte, die es geben kann!» Und sie fügte hinzu: «Wir werden wohl eine Art Letzte Mohikaner der Liebe sein!» Sie war auch dieses Tons gegen sich selbst im Augenblick fähig, denn wenn sie sich ganz ehrlich Rechenschaft ablegte, so war natürlich auch dieser verzauberte Garten, worin sie sich mit Ulrich befand, mehr Wunsch als Wirklichkeit. Sie glaubte nicht wirklich, daß schon das Tausendjährige Reich begonnen haben könnte, trotz dieses nach festem Boden klingenden Namens, den Ulrich einmal angegeben hatte. Sie fühlte sich sogar sehr verlassen von ihren Wunschkräften, und wo sonst ihre Träume entstanden, sie wußte nicht wo, bitter nüchtern. Sie entsann sich, daß sie vor der Zeit Ulrichs eigentlich leichter imstande gewesen war, sich einzubilden, ein wacher Schlaf, wie der, worin ihre Seele jetzt schaukelte, vermöchte sie hinter das Leben zu geleiten, in ein Wachsein nach dem Tode, in Gottes Nähe, zu Mächten, die sie holen kämen, oder bloß neben das Leben zu einem Aufhören der Begriffe und einem Übergang in Wälder und Wiesen von Vorstellungen: es war ja nie klar geworden, was das sei! So gab sie sich nun Mühe, sich dieser alten Vorstellungen zu entsinnen. Aber es kam ihr nur noch eine Hängematte in Erinnerung, zwischen zwei ungeheure Finger gespannt und von einer unendlichen Geduld geschaukelt; dann ein stilles Überragtwerden, wie von hohen Bäumen, zwischen denen man sich emporgehoben und verschwunden fühlt; und schließlich ein Nichts, das einen auf unbegreifliche Weise greifbaren Inhalt hatte –: Das waren wohl alle die Zwischengebilde von Eingebung und Einbildung, an denen ihr Verlangen einst Trost gefunden hatte. Aber waren es denn wirklich bloß Zwischen- und Halbgebilde gewesen? Zu ihrem Erstaunen begann Agathe etwas sehr Merkwürdiges allmählich aufzufallen. «Wahrhaftig,» dachte sie «es ist so, wie man sagt: es geht einem ein Licht auf! Und es verbreitet sich, je länger es dauert!» Denn was sie sich einst eingebildet hatte, war doch wohl fast in allem das, was jetzt ruhig und ausharrend dastand, sooft sie den Blick
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