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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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auf Ausschau schickte! Lautlos war es in die Welt getreten. Freilich war – anders, als es vielleicht ein buchstabengläubiger Mensch erlebt hätte – Gott ihrem Abenteuer fern geblieben, aber dafür war sie auch nicht mehr in diesem Abenteuer allein: das waren die zwei einzigen Änderungen, durch die sich die Erfüllung von der Vorankündigung unterschied, und zwar zugunsten irdischer Natürlichkeit.
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    Wandel unter Menschen
    In der Zeit, die nun folgte, zogen sie sich von ihren Bekannten zurück und setzten sie dadurch in Verwunderung, daß sie eine Reise vorschützten und sich auf keine Weise erreichen ließen.
    Sie waren meist heimlich zu Hause, und wenn sie ausgingen, mieden sie Orte, wo sie Menschen antreffen konnten, die demselben Gesellschaftskreis angehörten wie sie; doch besuchten sie Vergnügungsstätten und kleine Theater, wo sie davor sicher zu sein glaubten, und im allgemeinen folgten sie einfach, sobald sie das Haus verließen, den Großstadtströmungen, die ein Bild der Bedürfnisse sind und mit gezeitenmäßiger Genauigkeit die Massen, je nach der Stunde, irgendwo zusammenpressen und anderswo absaugen. Sie überließen sich dem ohne bestimmte Absicht. Es vergnügte sie, zu tun, was viele taten, und an einer Lebensführung teilzunehmen, die ihnen die seelische Verantwortung für die eigene zeitweilig abnahm. Und noch nie war ihnen die Stadt, worin sie lebten, so schön und fremd zugleich vorgekommen. Die Häuser boten in ihrer Gesamtheit ein großes Bild dar, auch wenn sie im einzelnen, oder einzeln, nicht schön waren; der Lärm strömte durch die hitzeverdünnte Luft wie ein an die Dächer reichender Fluß dahin; in dem starken, von der Straßentiefe gedämpften Licht sahen die Menschen leidenschaftlicher und geheimnisvoller aus, als sie es wahrscheinlich verdienten. Alles klang, sah aus, roch – so unersetzlich und unvergeßlich, als gäbe es zu verstehen, wie es sich in seiner Augenblicklichkeit selbst vorkomme; und die Geschwister nahmen diese Einladung, sich der Welt zuzuwenden, nicht ungern an.
    Trotzdem geschah das nicht ohne Zurückhaltung, denn sie spürten den hindurchgehenden Zwiespalt. Das Geheime und Unbestimmte, das sie selbst verband, obwohl sie nicht frei davon sprechen konnten, sonderte sie von den anderen Menschen ab; aber die gleiche Leidenschaft, die sie dauernd fühlten, weil sie sich nicht sowohl an einem Verbot gebrochen hatte als vielmehr an einer Verheißung, hatte sie auch in einem Zustand zurückgelassen, der Ähnlichkeit mit den schwülen Unterbrechungen einer körperlichen Vereinigung besaß. Die Lust ohne Ausweg sank wieder in den Körper zurück und erfüllte ihn mit einer Zärtlichkeit, die so unbestimmt war wie ein später Herbsttag oder ein früher Frühlingstag. Und wenn sie auch gewiß nicht für jeden Menschen und alle Welt ebenso empfanden wie für einander, so spürten sie doch den schönen Schatten des «Wie es wäre» davon auf ihr Herz fallen, und dieses konnte der sanften Täuschung weder völlig glauben, noch konnte es sich ihr völlig entziehen, was ihm auch immer begegnete.
    Das machte auf die freiwilligen Zwillingsgeschwister den Eindruck, daß sie durch ihre Erwartung und ihre Askese empfindlich geworden seien für alle unausgeträumten Zuneigungen der Welt, aber auch für die Schranken, die jedem Gefühl von der Wirklichkeit und Wachheit gesetzt werden; und es wurde ihnen die eigentümlich zweiseitige Beschaffenheit des Lebens sehr sichtbar, die jede große Bestrebung durch eine niedrige dämpft. Sie bindet an jeden Fortschritt einen Rückschritt und an jede Kraft eine Schwäche; sie gibt keinem ein Recht, das sie nicht einem anderen nähme, ordnet keine Verwicklung, ohne neue Unordnung zu stiften, und sie scheint sogar das Erhabene nur darum hervorzurufen, daß sie mit den Ehren, die ihm gebühren, bei der nächsten Gelegenheit das Platte überhäufen könne. So verknüpft ein schier unlöslicher und vielleicht tief notwendiger Zusammenhang alle hochgemuten menschlichen Bemühungen mit dem Zustandekommen ihres Gegenteils und läßt das Leben – über alle anderen Gegensätze und Parteiungen hinweg – für geistvolle, oder derart selbst nur halbvolle, Menschen ziemlich schwer erträglich sein, treibt sie aber auch an, eine Erklärung dafür zu suchen.
    Dieses Aneinanderhaften der Ehr- und Kehrseite des Lebens ist denn auch sehr verschieden beurteilt worden. Fromme Menschenverächter haben darin einen Ausfluß der irdischen Hinfälligkeit

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