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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Welterforschung und -entdeckung wieder ihm zuwenden und zu ihm ein Verhältnis der beginnenden Erfahrung gewinnen werden?!»
    Dieser Schluß hatte gar keine Beweiskraft, das wußte Ulrich; ja, er sollte den meisten sogar als Verkehrtheit erscheinen, und das focht ihn nicht an. Auch er selbst hätte ihn eigentlich nicht denken dürfen: Das wissenschaftliche Verfahren – so hatte er es doch erst kurz zuvor als rechtmäßig erläutert – besteht, außer aus Logik, daraus, daß es die an der Oberfläche, an der «Erfahrung» gewonnenen Begriffe in die Tiefe der Erscheinungen senkt und diese aus jenen erklärt; man verödet und verflacht das Irdische, um es beherrschen zu können, und der Einwand lag nahe, daß man das nicht auch auf das Überirdische ausdehnen dürfe. Aber diesen Einwand bestritt jetzt Ulrich: die Wüste ist kein Einwand, sie ist seit je eine Geburtsstätte himmlischer Gesichte gewesen; und überdies, Aussichten, die noch nicht erreicht sind, lassen sich auch nicht vorhersehen! Es entging ihm dabei, daß er sich vielleicht noch in einem zweiten Gegensatz zu sich selbst befand oder in eine Richtung geraten war, die von der seinen abbog: Paulus nennt den Glauben die zuversichtliche Erwartung von Dingen, die man erhofft, und die Überzeugung von Dingen, die man nicht sieht; und der Gegensatz zu dieser aufs Greifen bedachten Bestimmung, die zur Überzeugung der Gebildeten geworden ist, gehörte zum stärksten, was Ulrich im Herzen trug. Der Glaube als eine Verkleinerungsform des Wissens war seinem Wesen zuwider, er ist immer «wider besseres Wissen»; dagegen war es ihm gegeben, in der «Ahnung ‹nach› bestem Wissen» einen besonderen Zustand und ein Fahrtengebiet für unternehmende Geister zu erkennen. Es sollte ihn später noch manche Mühe kosten, daß sich dieser Gegensatz jetzt abgeschwächt hatte, aber vorläufig bemerkte er nichts davon, denn es gab in dieser Minute einen Schwarm von Nebeneinfällen, der ihn beschäftigte und vergnügte.
    Er griff Beispiele heraus. Das Leben wurde immer gleichförmiger und unpersönlicher. In alle Vergnügungen, Erregungen, Erholungen, ja selbst in die Leidenschaften drang etwas Typenhaftes, Mechanisches, Statistisches, Reihenweises ein. Der Lebenswille wurde breit und flach wie ein vor der Mündung zögernder Strom. Der Kunstwille war sich schon selbst beinahe verdächtig geworden. Es hatte den Anschein, daß die Zeit das Einzelwesen zu entwerten beginne, ohne doch den Verlust durch neue gemeinschaftliche Leistungen ersetzen zu können. Das war ihr Gesicht. Und dieses Gesicht, das so schwer zu verstehen war; das er einmal geliebt und in den Schlammkrater eines tief dröhnenden Vulkans umzudichten versucht hatte, weil er sich jung fühlte wie tausend andere; und von dem er sich, wie diese Tausende, abgewandt hatte, weil er des entsetzlich mißgestalten Anblicks nicht Herr wurde: dieses Gesicht verklärte sich, wurde ruhig, listigschön, und leuchtend von innen durch einen einzigen Gedanken! Denn wie, wenn Gott selbst es wäre, der die Welt entwertet? Gewänne sie damit nicht auf einmal wieder Sinn und Lust? Und müßte er sie nicht schon entwerten, wenn er ihr auch nur um den kleinsten Schritt näher käme? Und wäre es nicht schon das einzige wirkliche Abenteuer, auch nur den Vorschatten davon wahrzunehmen?! Diese Überlegungen hatten die unvernünftige Folgerichtigkeit einer Reihe von Abenteuern und waren so fremd in Ulrichs Kopf, daß er zu träumen meinte. Er spähte zuweilen vorsichtig zu seiner Schwester hinüber, als müßte er fürchten, daß sie wahrnähme, was er treibe, und einige Male erblickte er dabei ihren blonden Kopf wie Licht im Licht vor dem Himmel, und die Luft, die in ihrem Haar spielte, sah er auch mit den Wolken spielen.
    Wenn das geschah, hob nämlich auch sie sich ein wenig in die Höhe und blickte sich staunend um. Sie versuchte sich dann vorzustellen, wie es wäre, aus allen Gefühlen des Lebens entlassen zu sein. Selbst der Raum, dieser sich immer gleichbleibende, gehaltlose Würfel, sei nun wohl verändert, dachte sie. Wenn sie die Augen eine Weile geschlossen hielt und dann wieder öffnete, so daß der Garten unberührt in ihren Blick trat, als wäre er eben erst erschaffen worden, bemerkte sie so deutlich und unkörperlich wie eine Vision, daß die Richtung, die sie mit ihrem Bruder verbinde, unter allen anderen ausgezeichnet sei: Der Garten «stand» um diese Linie, und ohne daß sich an den Bäumen, Wegen und anderen Stücken der

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