Gesammelte Werke
gesehen; Donnerkerle das saftigste Lendenstück des Lebens; Durchschnittlinge fühlen sich in diesem Widerspruch so wohl wie zwischen ihrer rechten und linken Hand; und wer vorsichtig denkt, sagt einfach, die Welt sei nicht geschaffen, um menschlichen Begriffen zu entsprechen. Man hat es also als Unvollkommenheit der Welt oder der menschlichen Vorstellungen angesehn, hat es ebensowohl kindlich-traulich wie schwermütig oder trotzig-gleichgültig hingenommen, und alles in allem kann es mehr als Temperamentssache denn als nüchtern ehrbare Aufgabe der Vernunft gelten, darüber zu entscheiden. Nun aber, so gewiß die Welt nicht geschaffen ist, um menschlichen Forderungen zu entsprechen, so gewiß sind die menschlichen Begriffe geschaffen, um der Welt zu entsprechen, denn das ist ihre Aufgabe; und warum sie es gerade im Bereich des Rechten und Schönen nie zuwege bringen, bleibt damit schließlich doch eine seltsam offene Frage. Die planlosen Wege schienen es wie ein Bilderbuch darzubieten und ließen Gespräche entstehn, die von des Blätterns lose wechselnder Erregung begleitet waren.
Keines von diesen Gesprächen handelte seinen Gegenstand handgreiflich und vollständig ab, jedes wandte sich unter der Zeit nach den verschiedensten Zusammenhängen; dabei wurde der gedankliche Zusammenhang im ganzen immer breiter, die Gliederung nach lebendigen Anlässen, die aufeinander folgten, versagte einmal ums andere vor der übertretenden Flut angeregter Betrachtungen; und verlierend wie gewinnend, ging das lange weiter, ehe das Ergebnis unverkennbar zu sehen war.
So bekannte sich Ulrich auch – zufällig oder nicht, überzeugt oder aufs Geratewohl – als erstes zu der Möglichkeit, daß sowohl die Schranke, die dem Gefühl gesetzt ist, als daß auch das Vor und Zurück, oder zumindest Hin und Her, des Lebens, in einem gesagt, daß seine geistige Unzuverläßlichkeit, vielleicht eine nicht unnützliche Aufgabe zu erfüllen habe, und zwar die der Erzeugung und Erhaltung eines mittleren Lebenszustands.
Er wollte nicht von der Welt verlangen, daß sie ein Lustgarten des Genies sei. Ihre Geschichte ist nur in den Spitzen, wenn nicht Auswüchsen, eine des Genies und seiner Werke; in der Hauptsache ist sie die des Durchschnittsmenschen. Er ist der Stoff, mit dem sie arbeitet und der stets von neuem aus ihr wiederersteht. Vielleicht gab das ein Augenblick der Ermüdung ein. Vielleicht dachte Ulrich bloß überhauf, daß alles Mittelhohe und Durchschnittliche stämmig sei und beste Aussicht auf Erhaltung seiner Art darbiete; man hätte annehmen müssen, daß es das erste Gesetz des Lebens sei, sich selbst zu erhalten, und das möchte wohl stimmen. Sicherlich sprach bei diesem Beginn aber auch eine andere Aussicht mit. Denn mag es sogar gewiß sein, daß die menschliche Geschichte nicht gerade ihre Aufschwünge vom Durchschnittsmenschen empfängt; alles in allem genommen, Genie und Dummheit, Heldentum und Willenlosigkeit, ist sie eben doch eine Geschichte der Millionen Antriebe und Widerstände, Eigenschaften, Entschlüsse, Einrichtungen, Leidenschaften, Erkenntnisse und Irrtümer, die er von allen Seiten empfängt und nach jeder verteilt. In ihm und ihr mischen sich die gleichen Elemente; und auf diese Art ist sie jedenfalls eine Geschichte des Durchschnitts oder, je nachdem man es nehmen mag, der Durchschnitt von Millionen Geschichten, und wenn sie denn auch ewig um das Mittelmäßige schwanken müßte, was könnte am Ende unsinniger sein, als einem Durchschnitt seine Durchschnittlichkeit zu verübeln!
In diesen Gedanken schob sich aber auch die Erinnerung an die Berechnung von Durchschnitten ein, wie sie die Zufallsrechnung versteht: – Die Regeln der Wahrscheinlichkeit beginnen schon in einer kalten, beinahe schamlosen Gelassenheit damit, daß die Ereignisse bald so, bald anders, ja daß sie auch ins Gegenteil von dem ausschlagen könnten, was sie sind. Zur Bildung und Festigung eines Durchschnitts gehört es sodann, daß der höheren und besonderen Werte viel weniger als der mittleren sind, ja daß sie fast niemals auftreten, und daß es auch von den unverhältnismäßig geringen gilt. Die einen wie die andern bleiben besten- oder schlimmstenfalls Randwerte, und zwar nicht nur nach Anleitung der Rechnung, sondern auch in der Erfahrung überall dort, wo zufallsähnliche Bedingungen herrschen. Diese Erfahrung mag an Hagelversicherungen und Sterblichkeitsübersichten gewonnen sein; aber der geringen Wahrscheinlichkeit der
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