Gesammelte Werke
finden, vielleicht auf zwei grundverschiedene Zustände oder Arten des Gefühls zurückführen ließe.
Abbrechend sagte er: «Sieh an!» und beide wurden sich des Augenscheins bewußt. Es geschah, während sie einen bekannten und, wenn man so sagen darf, allgemein geachteten Platz überquerten. Da stand die neue Universität, ein nachgeahmter Barockbau, der von kleinlichen Einzelheiten überladen war; nicht weit davon stand, kostspielig und zweitürmig, eine «neugotische» Kirche, die wie ein gut gelungener Fastnachtsscherz aussah; und den Hintergrund bildete, neben zwei ausdruckslosen, zu der Hochschule gehörenden Anstalten und einem Bankpalast, ein großes düster-dürftiges Gerichts- und Gefangenenhaus, das mehrere Jahrzehnte älter war. Flinkes und massiges Fuhrwerk durchkreuzte dieses Bild, und ein einziger Blick vermochte sowohl die Gediegenheit des Gewordenen als auch die Vorbereitungen des weiteren Gedeihens zu umfassen, und nicht minder zur Bewunderung der menschlichen Tätigkeit aufzuregen als den Geist durch einen unmerklichen Bodensatz von Nichtssagenheit zu vergiften. Und ohne eigentlich den Gesprächsgegenstand zu wechseln, fuhr Ulrich fort: «Nimm an, daß sich eine Räuberbande der Weltherrschaft bemächtigt hätte, mit nichts ausgestattet als den gröbsten Instinkten und Grundsätzen! Nach einiger Zeit erwüchsen auch auf diesem wilden Boden geistige Schöpfungen! Und wieder über eine Zeit, wenn der Geist sich ausgebildet hätte, stünde er sich schon selbst im Wege! Die Ernte wächst, und ihr Gehalt vermindert sich; als ob die Früchte nach Schatten schmeckten, wenn alle Äste voll sind!» – Er fragte nicht, warum. Er hatte das Gleichnis einfach gewählt, um auszudrücken, er meine, daß sich das meiste von dem, was sich Kultur nenne, zwischen dem Zustand einer Räuberbande und dem müßiger Reife befinde; denn war es so, dann mochte es doch auch eine Entschuldigung für all das Gespräch sein, in das er abgelenkt worden war, obwohl ein zärtlicher erster Anhauch den Anfang gebildet hatte.
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Eine auf das Bedeutende gerichtete Gesinnung und beginnendes Gespräch darüber
Spricht einer von der zweiseitigen und unordentlichen Beschaffenheit des menschlichen Wesens, setzt es voraus, daß er meint, sich eine bessere vorstellen zu können.
Ein gläubiger Mensch kann das tun, und Ulrich war keiner. Im Gegenteil: Glaube stand bei ihm im Verdacht einer Neigung zum Vorschnellen, und ob der Inhalt dieses geistigen Verhaltens ein irdischer Einfall, ob er eine überirdische Idee war, schon als seelische Fortbewegungsart erinnerte es ihn an die ohnmächtigen Flugversuche eines Haushuhns. Nur Agathe bewirkte darin eine Ausnahme; an ihr behauptete er zu beneiden, daß sie voreilig und mit Eifer glauben konnte, und empfand die Weiblichkeit ihres Mangels manchmal fast so körperlich wie einen der anderen Geschlechtsunterschiede, von denen zu wissen eine selige Verblendung erregt. Er verzieh ihr diese Unberechenbarkeit selbst dann, wenn sie ihm eigentlich unverzeihlich erschien, so in der Verbindung mit der lächerlichen Person des Professors Lindner, von der ihm seine Schwester vieles verschwieg. Er spürte neben sich die Verschwiegenheit ihrer Körperwärme und erinnerte sich an eine leidenschaftliche Behauptung, die ungefähr den Sinn hatte, daß kein Mensch sich selbst schön oder häßlich, gut oder schlecht, bedeutend oder geisttötend sei, sondern daß sein Wert immer davon abhänge, daß man an ihn glaube oder an ihm zweifle. Das war eine maßlose Bemerkung, voll Großmütigkeit, aber auch von Ungenauigkeit zersetzt, die allerhand Rückschlüsse zuließ; und die versteckte Frage, ob sie nicht am Ende gar auf diesen Ziegenbock der Gläubigkeit, diesen Mann Lindner, zurückzuführen sei, von dem er so gut wie nichts als den Schatten kannte, ließ in dem schnellen unterirdischen Fluß seiner Gedanken eifersüchtig eine Welle aufschäumen. Als Ulrich aber darüber nachdachte, wußte er sich nicht zu entsinnen, ob überhaupt Agathe diese Bemerkung getan hätte oder nicht gar er selbst, und eines erschien ihm ebenso möglich wie das andere. Da zerfloß die Eifersuchtswelle in zärtlichen Schaum, wegen dieser Verwechselbarkeit über allen seelischen und körperlichen Unterschieden, und er hätte nun aussprechen mögen, was sein eigentlicher Vorbehalt gegen jede Glaubensbereitschaft war. Etwas zu glauben und an etwas zu glauben, sind seelische Zustände, die ihre Kraft einem anderen Zustand entnehmen
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