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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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eingegangenen Aufgabe und einer vergessenen Pflicht. Die Geschwister hatten scherzhaft-zufällig daran Anstoß genommen, sprachen aber ernst weiter.
    «Am deutlichsten wird das,» sagte Ulrich zu seiner Schwester «wenn man, was fast nur durch Zufall geschieht, eines wenig beachteten äußeren Zeichens inne wird, nämlich der Gepflogenheit, daß wir die Worte Genie und genial verschieden aussprechen, und nicht so, als ob das zweite vom ersten käme.»
    Wie es jedem ergeht, der auf eine unbeachtete Gewohnheit aufmerksam gemacht wird, verwunderte sich Agathe ein wenig.
    «Ich habe damals, nach dem Gespräch mit Stumm, im Grimmschen Wörterbuch nachgelesen» entschuldigte sich Ulrich. «Das Militärwort Genie, der Geniesoldat also, ist natürlich, wie es viele militärischen Ausdrücke getan haben, aus dem Französischen zu uns gekommen. Die Ingenieurkunst heißt dort Le génie; und damit hängt zusammen Geniekorps, Arme du génie, Ecole du génie, aber auch das englische Engine, das französische Engin und das italienische Ingegno macchina, das kunstvolle Werkzeug; die ganze Sippschaft aber geht auf das spätlateinische Genium und Ingenium zurück, Wörter, deren hartes G auf der Wanderung zu einem weichen Sch wird, und deren Grundbedeutung die Geschicklichkeit und das Können ist –: eine Zusammenfassung ähnlich der etwas alterssteifen Redensart ‹die Handwerke und Künste›, mit der uns amtliche Inschriften und Schriften heute noch zuweilen beglücken. Von da ginge ein verrotteter Weg also auch zum genialen Fußballspieler, ja sogar zum genialen Stöberhund oder Sprungpferd, aber es wäre folgerichtig, dieses Genial so wie jenes Genie auszusprechen. Denn es gibt ein zweites Genie und Genial, deren Bedeutung ebenfalls in allen Sprachen anzutreffen ist und nicht auf Genium zurückgeht, sondern auf Genius, auf das Mehr-als-Menschliche, oder wenigstens in Ehrfurcht auf Geist und Gemüt als das menschlich Höchste. Ich brauche wohl kaum noch zu sagen, daß diese beiden Bedeutungen allenthalben heillos verwechselt und vermischt worden sind, schon seit Jahrhunderten, und in der Sprache wie im Leben, und nicht nur im Deutschen; aber bezeichnendermaßen da am meisten, so daß es besonders eine deutsche Angelegenheit zu nennen ist, das Geniale und das Ingeniöse nicht auseinanderzuhalten. Überdies hat sie im Deutschen eine Geschichte, die mir an einer Stelle sehr nahegeht.»
    Agathe war dieser ausgedehnten Erklärung gefolgt, wie es in solchen Fällen zu geschehen pflegt, ein wenig mißtrauisch und bereit, sich zu langweilen, aber auf eine Wendung wartend, die von dieser Unsicherheit befreit. «Möchtest du mich für einen Sprachnörgler halten, wenn ich dir vorschlüge, daß wir zwei fortab das Wort ‹genialisch› wieder in Gebrauch nehmen sollten?» fragte Ulrich.
    Unwillkürlich deuteten ein Lächeln und eine Kopfbewegung seiner Schwester ihr Widerstreben gegen das veraltete Wort an, das ein Zeitgenosse von theatralisch, infernalisch, physikalisch und moralisch ist, aber mit sentimentalisch, idealisch, kolossalisch, kollegialisch und anderen aus dem Gebrauch gekommen ist und dem nun ein Geruch von alten Truhen und Trachten anhaftet.
    «Es ist ein veraltetes Wort,» gab Ulrich zu «aber es war ein guter Augenblick, da es gebraucht wurde! Und wie gesagt, habe ich doch darüber nachgelesen; und wenn es dich nicht stört, daß wir auf der Gasse sind, will ich noch einmal nachsehn, was ich dir darüber zu sagen vermag!» Er zog lächelnd einen Zettel aus der Tasche und entzifferte einzelne mit Bleistift beschriebene Stellen. «Goethe» verkündete er: «Hier sah ich Reue und Buße bis zur Karrikatur getrieben, und wie alle Leidenschaft das Genie ersetzt ‹wirklich genialisch›; an einem anderen Ort: ‹Ihre genialische Ruhe war mir oft in glänzender Begeisterung entgegengekommen›. – Wieland: ‹Die Frucht genialischer Stunden›; Hölderlin: ‹Die Griechen sind immer noch ein schönes, genialisches und frohes Volk›. Und ein ähnliches Genialisch findest du noch bei Schleiermacher in seinen jüngeren Jahren. Aber schon bei Immermann hast du die Worte: ‹Geniale Wirtschaft› und ‹Geniale Lüderlichkeit›. Da hast du also diese beschämende Wendung des Begriffs zum Kesselflickerhaft-Schlampigen, als was genialisch heute noch meist mit Spott verstanden wird.» Er drehte den Zettel hin und her, steckte ihn wieder ein und nahm ihn nochmals zu Hilfe. «Aber die Vorgeschichte und Vorursache findet sich schon

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