Gesammelte Werke
Mischung der Ereignisse zu überlassen?» Ulrich nickte. «Es ist ein Wenn – so. Wenn die menschliche Geschichte überhaupt eine Aufgabe hätte, und es diese wäre, dann könnte sie nicht besser sein, als sie ist, und erreichte auf die seltsame Art dadurch ein Ziel, daß sie keines hat!» Agathe lachte. «Und deswegen erzählst du, daß die niedrige Decke, unter der man lebt, eine ‹nicht unnützliche› Aufgabe zu erfüllen habe?» «Eine tief notwendige Aufgabe, die Begünstigung des Durchschnitts!» bestätigte Ulrich. «Zu diesem Zweck sorgt sie dafür, daß ein für allemal kein Gefühl und Wille in den Himmel wächst!» «Geschähe doch lieber das Gegenteil!» meinte Agathe. «Dann sollte mir nicht das Ohr von Aufmerksamkeit rauh werden, ehe ich alles weiß!»
Ein Gespräch wie dieses über Genie, Durchschnitt und Wahrscheinlichkeit dünkte Agathe, weil es bloß den Verstand beschäftigte, ohne das Gemüt zu berühren, verlorene Zeit zu sein. Nicht ganz so erging es Ulrich, obgleich er mit dem, was er gesagt hatte, herzlich unzufrieden war. Nichts war daran fest als der Satz: wenn etwas ein Zufallsspiel wäre, so zeigte das Ergebnis die gleiche Verteilung von Treffern und Nieten wie das Leben. Aber daraus, daß der zweite Teil eines solchen Bedingungssatzes die Wahrheit ist, läßt sich mitnichten auf die Wahrheit des ersten schließen! Die Umkehrbarkeit des Verhältnisses bedürfte eines genaueren Vergleichs, um glaubhaft zu werden, der es auch erst ermöglichen müßte, Begriffe der Wahrscheinlichkeit auf geschichtliche und geistige Ereignisse zu übertragen und zwei so verschiedene Gesichtskreise einander gegenüberzustellen. Dazu hatte Ulrich nun keine Lust; aber je mehr er die Unterlassung fühlte, desto sicherer wurde ihm die Wichtigkeit der berührten Aufgabe bewußt. Nicht nur hat der zunehmende Einfluß geistig lockerer Massen, der die Menschheit immer durchschnittlicher macht, jede Frage nach dem Aufbau des Durchschnittlichen Bedeutung gewinnen lassen; sondern die Grundfrage, welchen Wesens das Wahrscheinliche ist, scheint auch aus anderen Gründen, und darunter solchen, die allgemein und geistiger Herkunft sind, immer mehr an die Stelle der Frage nach dem Wesen der Wahrheit treten zu wollen, obgleich sie ursprünglich bloß ein Handwerksmittel für die Lösung einzelner Aufgaben gewesen ist.
Es hätte sich alles auch mit den Worten ausdrücken lassen, daß nach und nach der «wahrscheinliche Mensch» und das «wahrscheinliche Leben» anstelle des «wahren» Menschen und Lebens emporzukommen begännen, die eitel Einbildung und Vortäuschung gewesen seien; wie denn Ulrich etwas Ähnliches auch schon zuvor angedeutet, und gesagt hatte, daß die ganze Frage nichts als die Folge einer fahrlässigen Entwicklung wäre. Offenbar leuchtete ihm selbst der Sinn aller solchen Bemerkungen noch nicht völlig ein, doch verlieh ihnen gerade diese Schwäche die Eigenschaft, in weitem Umfang zu leuchten wie Wetterlicht, und er kannte noch so viele Beispiele des gegenwärtigen Lebens und Denkens, worauf sie paßten, daß er sich lebhaft aufgefordert sah, den gefühlhaften Begriff von ihnen in einen klareren zu verwandeln. So fehlte es auch nicht an der Notwendigkeit einer Fortsetzung, und er beschloß nun doch, sie bei schicklicherer Gelegenheit nicht zu verabsäumen.
Er mußte über seine Überraschung lächeln, als er sich bei diesem Vorsatz schon auf bestem Wege erkannte, ohne es gewollt zu haben, Agathe von etwas Altem zu unterrichten, das er früher in bedenklicher Laune oft die «Welt des Seinesgleichen geschieht» genannt hatte. Es war die Welt der Unruhe ohne Sinn, die wie ein Bach durch Sand ohne Grün fließt; er nannte sie jetzt die des «wahrscheinlichen Menschen». Mit aufgefrischter Neugierde betrachtete er die Menschenströme, deren Ufern sie folgten und von deren Leidenschaften, Gewohnheiten und fremden Genüssen sie von sich selbst abgezogen wurden: es war die Welt dieser Leidenschaften und Genüsse, und nicht die einer unausgeträumten Möglichkeit! So war es denn auch um deswillen die der Schranken, die selbst das ausschweifendste Gefühl in Grenzen setzen, und die des mittleren Lebenszustands. Zum erstenmal dachte er nicht bloß gefühlvoll, sondern in der Art, wie etwas Wirkliches erwartet wird, daran, daß sich der Unterschied, der es in einem Fall dem weltlichen Gefühl unmöglich mache, zu Ruhe und bleibender Erfüllung zu kommen, im andern eine fortschreitende und weltliche Bewegung zu
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