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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Kreislauf!» bekräftigte er. «Weißt du übrigens, daß man unter diesem ‹appetitartig› einfach den Anteil versteht, den die uns eingeborenen Triebe an jedem Gefühl haben? Also» fügte er hinzu «haben wir damit gesagt, daß es die Triebe sind, wem die Welt Schönheit und Fortschritt verdankt.»
    «Und ihre wirre Unruhe» wiederholte Agathe.
    «Gewöhnlich sagt man gerade das; darum erscheint es mir nützlich, daß wir das andere nicht außer acht lassen! Denn es ist ja zumindest unerwartet, daß der Mensch gerade seinen Fortschritt dem verdanken soll, was eigentlich der Tierstufe angehört!» – Er lächelte dazu. Auch er hatte sich jetzt aufgestützt und kehrte sich ganz seiner Schwester zu, als wollte er sie aufklären; sprach aber zurückhaltend weiter wie einer, der sich zuerst durch die Worte, die er sucht, selbst belehrt fühlen will. «Zweifellos haben die tätig zugreifenden Gefühle des Menschen,» sagte er «und mit Recht hast du da von einer animalischen Anlage gesprochen, zum Kern die gleichen paar Instinkte, die schon das Tier hat. Bei den Hauptgefühlen ist es ganz deutlich: An Hunger, Zorn, Freude, Eigenwille oder Liebe verdeckt der seelische Schleier doch kaum das nackteste Wollen –!»
    Es hatte den Anschein, daß er auf die gleiche Art fortfahren wolle. Aber obwohl das Gespräch – hervorgegangen aus einem Naturtraum, dem Anblick des Blütenzugs, der noch immer eigentümlich ereignislos mitten durch das Gemüt zu schweben schien – bei keinem Wort die Schicksalsfrage der Geschwister verkennen ließ; vielmehr vom ersten bis zum letzten unter dem Einfluß jenes Sinnbilds stand, beherrscht war von der geheimsinnigen Vorstellung eines «Geschehens, ohne daß etwas geschieht», und in einer Stimmung sanfter Bedrängnis stattfand: obwohl alles so war, hatte das Gespräch doch zuletzt zu dem Gegenteil solcher Leitvorstellung und ihrer Gefühlsstimmung geführt; als nämlich Ulrich nicht umhin konnte, die aufbauende Tätigkeit starker Triebe neben deren störender hervorzuheben. Eine so deutliche Ehrenrettung der Triebe, und mitverstanden des triebhaften, und des tätigen Menschen überhaupt – denn auch das bedeutete es – hätte nun freilich einem «westlichen, abendländischen, faustischen Lebensgefühl» angehören können, in der Sprache der Bücher so genannt zum Unterschied von einem jeden, das nach derselben sich selbst befruchtenden Sprache «orientalisch» oder «asiatisch» sein soll. Er erinnerte sich dieser vornehmtuerischen Modeworte. Doch es lag nicht in der Absicht der Geschwister, noch hätte es ihren Gewohnheiten entsprochen, einem Erlebnis, von dem sie tief bewegt waren, durch solche angeflogenen, schlecht verwurzelten Begriffe eine trügliche Bedeutung zu geben; vielmehr war alles, was sie miteinander sprachen, als wahr und wirklich gemeint, mochte es auch wolkenwandlerischen Ursprungs sein.
    Darum hatte Ulrich seine Lust daran gehabt, dem zarten Nebel des Gefühls eine Erklärung nach Art der Naturwissenschaften zu unterschieben; und das – mochte der Anschein auch dem «Faustischen» Vorschub leisten – in Wahrheit bloß deshalb, weil der naturgetreue Geist alles auszuschließen versprach, was unmäßige Einbildung ist. Zumindest hatte er den Ansatz zu einer solchen Erklärung angedeutet. Es war freilich desto seltsamer, daß er ihn nur für das angedeutet hatte, was er das Appetithafte des Gefühls nannte; dagegen ganz außeracht gelassen, wie er einen Gedanken ähnlicher Art auch auf das Nichtappetitartige anwenden könnte, obwohl er anfangs auf dieses gewiß nicht weniger Gewicht gelegt hatte. Es geschah nicht ohne Grund so. Sei es, daß ihm die psychologische und biologische Zergliederung an dieser Seite des Fühlens schwieriger vorkam, sei es, daß er sie vollends nur für ein verdrießliches Hilfsmittel hielt; beides mochte so sein; was ihn aber vornehmlich beeinflußte, war etwas anderes, und er hatte es überdies seit dem Augenblick, wo Agathes Stoßseufzer den schmerzlichen und beglückenden Gegensatz zwischen den vergangenen unruhigen Lebensleidenschaften und der scheinbar unvergänglichen verraten hatte, die in der zeitlosen Stille unter dem Blütenstrom zu Hause war, schon einigemal vorhersehen lassen. Denn es sind – zu wiederholen, was er schon verschiedentlich wiederholt hatte – nicht nur in jedem einzelnen Gefühl zwei Anlagen unterscheidbar, durch die und nach deren Art es sich bis zur Leidenschaft ausgestalten kann; sondern es gibt auch zwei Arten

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