Gesammelte Werke
gebracht hatten; denn er fühlte sich jetzt wieder im klaren und hatte den betäubenden Geschmack, die Verwandlung in das Willenlose und Leblose, das zu seiner Erfahrung gehörte, für dieses Mal überwunden, so daß die selbsttätige Erwähnung ungewollt durch eine Gedankenlücke schlüpfte.
Diese Gedanken waren noch immer auf das Allgemeinere gerichtet, mit dem sich ein persönlicher Fall sowohl vergleichen ließ als er auch davon abstach; und wenn man zu Gunsten des inneren Zusammenhangs dieser Gedanken beiseite läßt, wie sie einander folgten und formten, so bleibt ein mehr oder minder unpersönlicher Gehalt über, der ungefähr so aussah: Für das Lebensgefüge mag der Haß ebenso wichtig sein wie die Liebe. Es scheint auch ebensoviel Gründe zu geben, die Welt zu lieben wie zu verabscheuen. Und in der Natur des Menschen liegen beide Instinkte anwendungsbereit, in einem ungleichen Verhältnis ihrer Kräfte, das persönlich verschieden ist. Aber es ist nicht zu sagen, wie sich Lust und Unwillen dabei die Waage halten, um uns das Leben doch immer weiterführen zu lassen: Falsch ist offenbar bloß die gern gehörte Meinung, daß es dazu eines Mehr an Lust bedürfe, denn wir führen auch das Leben in Unlust weiter, mit einem Überschuß an Unglück, an Haß oder Geringschätzung für das Leben, und fahren dabei so sicher wie mit einem Überschuß an Glück. Es fiel Ulrich aber ein, daß beide ein Äußerstes sind, der lebensliebe wie der vom Unwillen beschattete Mensch, und darum dachte er an den mannigfaltigen Ausgleich, der das Gewöhnliche ist. Zu diesem Ausgleich von Liebe und Haß, und somit zu den Vorgängen und Gebilden, mit deren Hilfe sie sich ins Einvernehmen setzen, gehören zum Beispiel die Gerechtigkeit und alle anderen Formen des Maßhaltens; gehört aber nicht minder auch die Bildung der Genossenschaften von zweien oder von Unzähligen, Vereinigungen, die wie gefütterte Nester mit auswendigen Dornengürteln sind; es gehört auch die Gottesgewißheit dazu; und Ulrich wußte, daß in dieser Reihe endlich auch das geistig-sinnliche Gebilde der «Schwester» als ein gewagtestes Mittel seinen Platz habe. Aus welcher Schwäche der Seele dieser Traum seine Feuchtigkeit zog, stand darum hintan, und voran stand als Ursprung ein eigentlich übermenschliches Mißverhältnis. Und wahrscheinlich hatte Ulrich aus diesem Grunde auch von Widerweltlichkeit gesprochen, denn wer die Tiefe der guten und bösen Leidenschaft kennt, dem zerfällt alles Übereinkömmliche, das dazwischen vermittelt, und nicht um die Leidenschaft zum eigenen Blut zu beschönigen, hatte er also gesprochen.
Ohne sich Rechenschaft zu geben, warum er es tue, erzählte er Agathe nun auch ein zweites Geschichtchen, das anfangs gar keinen Zusammenhang mit dem ersten zu haben schien. «Es ist mir einmal vor Augen gekommen und wirklich soll es sich auch in der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs zugetragen haben, als ohnegleichen Menschen und Völker durcheinandergeworfen worden sind» begann er. «Aus einer Gruppe einsam liegender Bauernhöfe waren die meisten Männer von den Kriegsdiensten entführt worden, keiner von ihnen kam wieder, und die Frauen führten allein die Wirtschaft, was ihnen mühevoll und verdrießlich war. Da geschah es, daß einer von den verschollenen Männern in die Heimat zurückkehrte und sich nach vielen Abenteuern bei seinem Weib meldete. Ich will aber lieber gleich sagen, daß es nicht der rechte Mann gewesen ist, sondern ein Landstreicher und Betrüger, der einige Monate lang mit dem Verschollenen und vielleicht Zugrundegegangenen Marsch und Lager geteilt und sich dessen Erzählungen, wenn ihm das Heimweh die Zunge lockerte, so gut eingeprägt hatte, daß er sich für ihn auszugeben vermochte. Er kannte den Kosenamen des Weibs und der Kuli und die Namen und Gewohnheiten der Nachbarn, die überdies nicht nahe wohnten. Er hatte einen Bart, wie und wo ihn der andere gehabt hätte. Er blickte auf eine Art aus zwei Augen, die keine besondere Farbe hatten, daß man wohl meinen konnte, er hätte es auch früher nicht viel anders getan, und ob seine Stimme zwar anfangs befremdete, Heß es sich immerhin dadurch erklären, daß man früher nie so genau auf sie geachtet hätte wie jetzt. Kurz und gut, der Mann wußte seinen Vorgänger Zug um Zug zu vertreten, wie ein grobes und unähnliches Bild anfangs abstößt, aber umso ähnlicher wird, je länger man mit ihm allein bleibt, und schließlich ganz die Erinnerung einschüchtert.
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