Gesammelte Werke
Menschen, oder in jedem Menschen Zeiten seines Schicksals, die darin verschieden sind, daß die eine oder andere Anlage überwiegt.
Er sah einen großen Unterschied darin. Menschen des einen Schlags, es ist schon erwähnt worden, greifen lebhaft nach allem und nehmen alles in Angriff; sie gehen wie ein Sturzbach über Hindernisse hinweg oder schäumen darum in eine neue Bahn; ihre Leidenschaften sind stark und wechselnd, und das Ergebnis ist ein heftig gegliederter Lebenslauf, der nichts als ein Vorbeigerauschtsein hinterläßt. Dieser Art Mensch hatte der Begriff des Appetitartigen gegolten, als Ulrich daraus den einen Hauptbegriff des leidenschaftlichen Lebens hatte machen wollen; denn die andere Art ist im Gegensatz zu dieser nichts weniger, als ihm entspräche: Sie ist schüchtern, versonnen, undeutlich; schwer entschlossen, voll von Träumen und Sehnsucht und verinnerlicht in ihrer Leidenschaft. Zuweilen – in Gedanken, von denen jetzt nicht die Rede war – gebrauchte Ulrich für sie auch die Bezeichnung «kontemplativ», ein Wort, das gewöhnlich anders gemeint wird, und etwa bloß in der lauwarmen Bedeutung von «besinnlich»; für ihn aber mehr als diesen gewöhnlichen Sinn hatte, ja geradezu dem vorhin erwähnten Orientalisch-Unfaustischen gleichkam. Vielleicht prägte sich in diesem Kontemplativen, und zumal in Gemeinschaft mit dem Appetithaften als seinem Gegenteil, ein Hauptunterschied des Lebens aus: Das zog Ulrich lebhafter an als ein Lehrbegriff. Aber daß man solche hochzusammengesetzten und anspruchsvollen Lebensbegriffe alle auf eine zweifache Schichtung, die schon jedes Gefühl hat, zurückführen könnte, diese elementare Möglichkeit der Erklärung war ihm doch auch eine Genugtuung.
Natürlich war ihm klar, daß die beiden Arten des Menschseins, die dabei auf dem Spiel standen, nichts anderes bedeuten konnten als einen Mann «ohne Eigenschaften», im Gegensatz zu dem mit allen Eigenschaften, die ein Mensch nur zu zeigen vermag. Man mochte den einen auch einen Nihilisten nennen, der von Gottes Träumen träumt; im Gegensatz zum Aktivisten, der in seiner ungeduldigen Handlungsweise aber auch eine Art Gottesträumer ist, und nichts weniger als ein Realist, der weltklar und welttätig sich umtut. «Weshalb sind wir denn keine Realisten?» fragte sich Ulrich. Sie waren es beide nicht, weder er noch sie, daran ließen ihre Gedanken und Handlungen längst nicht mehr zweifeln; aber Nihilisten und Aktivisten waren sie, und bald das eine bald das andere, je nachdem wie es kam.
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Das Sternbild der Geschwister oder Die Ungetrennten und Nichtvereinten
Auch in den Jahren, wo Ulrich seinen Lebensweg allein und nicht ohne Übermut gesucht hatte, war ihm das Wort Schwester oft schwer von unbestimmter Sehnsucht gewesen, obwohl er damals so gut wie niemals daran dachte, daß er eine lebende und wirkliche Schwester besitze. Darin lag ein Widerspruch und weist auf eine unebene Herkunft hin, für die sich denn auch manches anführen läßt, das die Geschwister gewöhnlich gering achteten. Es mußte ihnen nicht falsch erscheinen, wog aber im Verhältnis zu der Wahrheit, der sie sich nahe wußten, nicht mehr, als ein einspringender Winkel für die Rundung eines groß geschwungenen Mauerzugs bedeutet.
Ohne Frage kommt Ähnliches oft vor. In manchem Leben ist die unwirkliche, erdichtete Schwester nichts anderes als die hochfliegende Jugendform eines Liebesbedürfnisses, das sich später, im Zustand kälterer Träume, mit einem Vogel oder anderem Tier begnügt oder sich der Menschheit oder dem Nächsten zuwendet. Im Leben manches anderen Menschen ist sie jugendliche Lebensscheu und Einsamkeit, ein erdichteter Doppelgänger voll spiegelfechterischer Anmut, der die Angst der Einsamkeit zur Zärtlichkeit eines einsamen Beisammenseins mildert. Und von manchen Naturen wäre bloß zu sagen, daß dieses schwärmerisch von ihnen gehegte Bild nichts sei, als die eingekochteste Eigenliebe und Selbstsucht; ein über die Maßen Geliebtseinmögen, das eine verschlagene Verbindung mit süßer Selbstlosigkeit eingegangen ist. Daß aber viele Männer und Frauen ein solches Gegenbild im Herzen tragen, daran kann kein Zweifel bestehn. Es stellt schlechthin die Liebe dar und ist immer das Zeichen eines unbefriedigenden und gespannten Verhältnisses zur Welt. Und nicht nur die verkürzt wurden oder von Natur ohne Ebenmaß sind, auch die Wohlgeratenen kennen solche Wünsche.
So fing Ulrich denn an, zu seiner Schwester von einem
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