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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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Erlebnis zu sprechen, das er ihr schon einmal erzählt hatte, und wiederholte die Geschichte der unvergeßlichsten Frau, die, Agathe selbst ausgenommen, je seinen Weg gekreuzt hatte. Diese Frau war ein Frau-Kind, ein Mädchen von etwa zwölf Jahren gewesen, das, merkwürdig vollendet in seinem Gebaren, mit ihm und einem Begleiter eine kurze Strecke weit in dem gleichen Straßenbahnwagen gefahren war und ihn entzückt hatte wie ein geheimnisvoll vergangenes Liebesgedicht, dessen Andeutungen voll nie erlebter Seligkeit sind. Dieses Aufflammen seiner Verliebtheit hatte später manchmal Bedenken in ihm erregt, denn es war seltsam und ließ zweifelhafte Rückschlüsse auf ihn selbst zu. Er gab darum die Erinnerung auch nicht gefühlvoll wieder, sondern sprach von den Bedenken, wenngleich er diese wohl nicht ohne Gefühl verallgemeinerte. «Ein Mädchen hat in diesem Alter sehr oft schönere Beine als später» sagte er. «Die spätere Gedrungenheit entsteht wahrscheinlich erst aus dem, was sie unmittelbar über sich zu tragen haben; in der Halbwüchsigkeit sind sie lang und frei und können laufen, und wenn die Röcke bei einer lebhaften Bewegung die Schenkel freigeben, deren Rundung schon etwas sanft Zunehmendes hat – oh, mir fällt die Mondsichel ein, gegen das Ende ihrer zarten ersten Mondmädchenzeit –, so sehen sie herrlich aus! Ich habe mich später manchmal ernsthaft nach den Gründen gefragt. Das Haar hat in diesem Alter den mildesten Glanz. Das Gesicht zeigt seine schöne Anlage. Die Augen sind wie ein glatter, noch nie zerknitterter Seidenstoff. Der Geist, in Zukunft dazu bestimmt, kleinlich und begehrlich zu werden, ist noch zwischen dunklen Wünschen eine reine Flamme ohne viel Helligkeit. Und was in diesem Alter gewiß noch nicht schön ist, zum Beispiel der Kinderbauch oder der blinde Ausdruck der Brust, gewinnt durch die Kleidung, sofern sie die Erwachsenheit geschickt vortäuscht, und durch die träumerische Ungenauigkeit der Liebe alles, was eine liebenswürdige Bühnenmaske vermag. So ein Geschöpf zu bewundern, ist also ganz rechtschaffen in Ordnung, und wie sollte man es anders tun als mit einem Anflug von Liebe!»
    «Und wider die Natur ist es gar nicht, solche Empfindungen an ein Kind zu wenden?» fragte Agathe.
    «Widernatürlich wäre erst ein plump unmittelbares Begehren» erwiderte Ulrich. «Aber ein solcher Mensch verstrickt auch das unschuldige, oder auf jeden Fall unfertige und schutzlose, Geschöpf in Geschehnisse, für die es nicht bestimmt ist. Er muß von der Unreife des werdenden Geistes und Körpers absehen und seine Leidenschaft mit einem stummen und verhüllten Gegenspieler spielen; nein, er sieht nicht nur von allem, was ihn hindern sollte, ab, sondern er setzt sich mit Roheit darüber hinweg! Das ist ganz ein anderes Verhalten mit anderen Folgen!»
    «Aber vielleicht hegt ein Anhauch der Verderblichkeit des ‹Hinwegsetzens› doch auch schon darin, daß man ‹absieht›?» wandte Agathe ein. Sie war vielleicht eifersüchtig auf das Gedankengespinst ihres Bruders; jedenfalls widersetzte sie sich. «Ich finde keinen großen Unterschied darin, ob man nicht achtet, was einen hindern könnte, oder ob man es nicht fühlt!»
    Ulrich entgegnete: «Du hast recht und hast es nicht. Ich habe die Geschichte eigentlich bloß erzählt, weil sie eine Vorstufe der Geschwisterliebe ist!»
    «Der Geschwisterliebe?» fragte Agathe und stellte sich erstaunt, als hörte sie das Wort zum erstenmal; aber da sie ihre Nägel wieder in Ulrichs Arm eingrub, tat sie es vielleicht zu stark, und es zitterten ihre Finger. Ulrich, der es empfand, als ob sich nebeneinander fünf kleine warme Quellen in seinem Arm geöffnet hätten, sagte plötzlich: «Wessen stärkste Erregungen mit Erlebnissen verbunden sind, von denen jedes auf irgendeine Art unmöglich ist, der will nicht die möglichen Erlebnisse! Mag sein, daß die Phantasie eine Flucht vor dem Leben, eine Zuflucht der Feigheit und eine Lasterhöhle ist, wie es viele behaupten; ich glaube, daß die Geschichte des kleinen Mädchens, und auch alle anderen Beispiele, von denen wir gesprochen haben, nicht auf eine Unnatur oder Lebensschwäche hinweist, sondern auf eine Widerweltlichkeit und starke Widersetzlichkeit, auf ein übergroßes und überleidenschaftliches Verlangen nach Liebe!» Er vergaß, daß Agathe nichts von den anderen Beispielen und zweifelhaften Vergleichen wissen konnte, mit denen seine Gedanken zuvor die Geschwisterliebe in Verbindung

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