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Gesammelte Werke

Gesammelte Werke

Titel: Gesammelte Werke Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Musil
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demselben Ast; und daß ein Mystiker dabei die Beseelung der Welt zu erleben meint, der nüchtern Irrende oder Findende aber einen Grundbegriff zur Beschreibung der lebenden Natur im Gegensatz zur toten entdeckt: Das sind vielleicht nur verschiedene Auslegungen!» Er blickte zu dem Wipfel des Baums empor, der sich vor seinem Auge leise im Himmelsblau bewegte; und die Menschen vor dem Gitter strömten mit dem seltsam streifenden Geräusch eines Flusses vorbei, das vom Scheuern der Steine aus dem Schotterbett heraufdringt, wenn man sich von den Wellen tragen läßt.
    «Womit wollen wir beginnen?» fragte Agathe entschlossen, nachdem sie seinem Blick gefolgt war, der wieder zur Straße ging.
    «Das läßt sich wohl nicht auf Befehl tun!» mahnte Ulrich lächelnd ab.
    «Nein. Aber einen Versuch könnten wir machen. Und wir werden uns ihm nach und nach anvertrauen.»
    «Es muß von selbst kommen.»
    «Tun wir etwas dazu!» schlug Agathe vor. «Hören wir zum Beispiel jetzt auf zu reden und überlassen wir uns ganz dem, was wir sehen!»
    «Meinetwegen!» gab Ulrich zu.
    Eine kleine Weile blieben sie nun still und Agathe spürte etwas, das sie an den Augenblick erinnerte, wo der weiche Zug abgefallener Baumblüten durch die Luft geschwebt war und alles Gefühl zum Stillstand gebracht hatte. Aber ein wenig später war ihr wieder etwas anderes eingefallen. «Schließlich heißt doch, etwas auf gewöhnliche Art zu lieben, es anderem vorzuziehn?» flüsterte sie. «Also müßten wir trachten, einen von diesen in unser Gefühl einzulassen, aber gleichsam bei offen bleibender Tür!»
    «Bleib still! Vor allem mußt du doch still sein!» wehrte Ulrich die Störung ab.
    Nun sahen sie wieder eine Weile hinaus.
    «Es gelingt ja doch nicht!» beklagte sich Agathe leise, stützte sich auf den Ellbogen und sah ihren Bruder zweifelnd an «Eigentlich sind wir schreckliche Nichtstuer!»
    Ulrich lachte: «Du vergißt, daß auch die Seligkeit keine Arbeit ist!»
    «Laß uns etwas Gutes tun!» schlug sie unvermittelt vor. «Am Gitter wird sich schon ein Anlaß finden!»
    «Dazu muß man selbst gut sein. Sonst erfährst du gar nicht, was gut ist! Darum habe ich wohl von der Philautia gesprochen; jetzt verstehe ich es.»
    Agathe antwortete mit bitterer Heiterkeit: «Ein bequemer Grundsatz! Wenn man gut ist, ist alles gut, was man tut und läßt.»
    «Vielleicht» sagte Ulrich und fuhr mit der Mischung von Ernst und Unernst fort, die gewöhnlich dem leeren Verstandesgeschick zur Last gelegt wird, in Wahrheit aber von dem Hinundherstrahlen der Gefühle hervorgerufen wird: «Ein guter Mann kann auch töten. Er darf sich jedenfalls verteidigen. Ein tiefer und im Grunde glücklicher Ernst, der das Gegenteil der kämpfenden Roheit ist, wird auch in seine Feindseligkeit mehr Seligkeit als Feindlichkeit legen!»
    «Das glaubst du aber doch selbst nicht, daß man ohne Roheit kämpfen kann!» rief Agathe aus.
    «Oh, Gott nein!» bestätigte Ulrich auch das. «Bei einem Manne unserer Zeit, wie auch ich einer bin, ist die Todesverachtung ja doch nur Lebensverachtung, im Grunde also Selbstverachtung. Wir schätzen eher noch den Tod als das Glück —»
    «Willst du also gar nichts tun?» unterbrach Agathe diese Meditation.
    Ulrich lachte. Er war gereizt. Sollte er bekennen, daß ihm in diesem Augenblick neben seiner Schwester Männerstreit und Tapferkeit noch einmal beneidenswert und als das einzige männliche Glück vorkamen, und bloß wegen der bittersüßen Erfahrung, wie feig und unentschlossen jedes andere Glück mache.
    Nun verstand Agathe den Scherz nicht mehr. «Ist alles das dein Ernst?» fragte sie.
    «Es ist der Schatten meines Ernstes!»
    Aber sie stand trotzdem auf und leistete Widerstand.
    [◁]
58
    Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte
    [Aus einem frühen Entwurf zu: Sonderaufgabe eines Gartengitters]
    Agathe leistete nun ernsthaft Widerstand: «Wir haben doch keine Untersuchung abzuschließen, sondern, wenn du den Ausdruck gestattest, unser Herz zu öffnen» verlangte sie mit einiger spöttischer Schärfe. «Und auch womit man anzufangen hätte, ist seit einiger Zeit nicht mehr neu, nämlich schon seit dem Evangelium nicht! Schließe Haß, Widerstand, Hader von dir aus; glaube einfach nicht daran, daß es sie gebe! Tadle nicht, zürne nicht, mache nicht verantwortlich, wehre dich gegen nichts! Kämpfe nicht mehr; formuliere (denke) und feilsche nicht; vergiß und verlerne zu verneinen! Fülle so jeden Spalt, jede Ritze zwischen dir

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