Gesammelte Werke
der Tiefe der bösen Leidenschaft; die vermittelnden Ideen; endlich auch in ihnen selbst die natürliche Abwägung von Leidenschaft und Enthaltung. Es war wohl ihr Schicksal, daß sie jenes ekstatische Leben, dessen Spiegel zerbrochen unter dem gewöhnlichen hervorblickt, für ebenso wirklich halten sollten wie dieses, und darum empfanden sie auch nicht Hochmut gegen das gewöhnliche Leben – so sehr sie sich immer von ihm absonderten –, und daß sie das grobe Sinnbild des Gartengitters aufsuchten, geschah mit dem Wunsch, sich selbst angesichts der Menschen halb ernst und halb scherzhaft noch einmal auf die Probe zu stellen.
Agathe legte ihre Hand, deren leichte, trockene Wärme wie aus feinster Wolle war, auf Ulrichs Kopf, wandte den in die Richtung der Straße, ließ die Hand auf der Schulter ruhen und kitzelte das Ohr ihres Bruders mit den Worten: «Nun wollen wir unsere Nächstenliebe prüfen. Wie wäre es, wenn wir einen von diesen zu lieben versuchten wie uns selbst?»
«Ich liebe mich nicht selbst!» widersprach Ulrich.
«Dann ist es wenig schmeichelhaft, was Du mitunter sagst, daß ich deine in eine Frau verwandelte Selbstliebe sei!»
«Oh, nicht doch! du bist meine andere Selbstliebe, die gute!»
«Erklären!» befahl Agathe und sah nicht auf.
«Ein guter Mensch hat liebenswerte Fehler, und an einem bösen sind sogar die Tugenden schlecht. So wird der eine auch eine gute Selbstliebe haben und der andere eine schlechte.»
«Ich glaube es, aber es bleibt mir dunkel.»
«Und rührt doch von einem der größten Denker her, von dem das Christentum viel gelernt hat, nur leider gerade das nicht! Ein halbes Jahrtausend vor Christus hat er gelehrt, wer nicht die rechte Selbstliebe habe, habe auch keine gute Liebe zu andern!»
«Das macht es nicht viel klarer!»
«Drehe einmal den Satz um» schlug Ulrich vor. «Denke nicht, wer gut sei, müsse unter anderm auch mit der Selbstliebe im Lot sein, und das heißt dann, gewöhnlich bloß maßvoll; sondern sage, wer die rechte Selbstliebe habe, sei gut! Dann steht der Satz auf den Füßen. Aufrecht und gerade, ist er jetzt die Behauptung, wer sich nicht selbst liebe, könne nicht gut sein, eine Botschaft, die ziemlich das Gegenteil von Christentum ist! Denn nicht, wer gegen andere gut ist, gilt da als gut; sondern wer gut an sich selbst, ist es notwendig auch gegen andere. Das ist also eine schöpferische Art Selbstliebe ohne Schwäche und Unmännlichkeit, eine kriegerische Übereinstimmung von Glück und Tugend, eine Tugend in stolzem Sinn!»
«Du bist ein unausstehlicher Turnlehrer, der allmorgens kommt!» wehrte Agathe ab. «Der Hahn kräht, und man soll schon wieder losprasseln! Ich möchte jetzt schlafen!»
«Nein, du sollst mir doch helfen!»
Sie lagen, gegen den Boden gewandt, nebeneinander. Wenn sie die Köpfe hoben, sahen sie die Straße; wenn sie es nicht taten, sahen sie die vertrocknenden Abfälle des hohen Baums zwischen spitzen, jungen Gräsern. Weshalb sprachen sie von «Selbstliebe»? Vielleicht weil sie eng nebeneinander lagen und die Wärme des einen Körpers zu der des anderen kroch wie zwei Wesen, die keinen Kopf haben. Vielleicht auch gerade deshalb, weil keiner von ihnen sich selbst liebte, und sein früheres Leben, und weil sie für das, was ihnen im gewöhnlichen Sinne fehlte, ineinander Entschädigung suchten. Und vielleicht, weil es die schmerzlich selige Zwillingsfrage war, daß einer den anderen genau so lieben wollte wie sich selbst.
«Wer ist der Mann gewesen, der das gesagt hat?» fragte Agathe.
«Ach, ich weiß nicht: vielleicht Aristoteles» gab Ulrich zur Antwort und wurde schweigsam.
Nun sahen sie wieder hinaus, die Augen auf die Straße gerichtet, und die Schar der Fußgänger und Gefährte schwamm vor dem Blick vorbei, der kein bestimmtes Ziel hatte. Bei diesem Zustand des Körpers verschwammen auch die Gedanken zu großen bewegten Massen, zwischen denen sich einzelnes mehr oder minder willkürlich hervorhob.
Der Begriff der Aristotelischen Selbstliebe, der Philautia, des männlich schönen Verhältnisses zu sich selbst, das nicht Ichsucht sei, sondern Wesensliebe des niederen Seelenteils zum höheren Selbst, wie eine ursprüngliche Lesart zu verstehen gibt, dieser anscheinend sehr sittsame, in Wahrheit aber zu vielem fähige Gedanke, hatte es Ulrich seinerzeit gleich angetan, bei der ersten flüchtigen Bekanntschaft, bei der es leider auch nach den Lernjahren geblieben war. Die buchgelehrte und christliche
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