Gesammelte Werke
auf Wissenschaft, Kunstrichtungen, Komfort und alle Heutlerei zu verzichten. Und warum nimmst du es dann anderen so übel?»
«Da hast du gewiß recht» räumte nun Ulrich ein. Ein trockenes Reis war ihm zwischen die Finger geraten, und er stocherte damit nachdenklich im Boden. Sie waren von ihrem Platz ein wenig zurückgeglitten, so daß wieder nur die Köpfe über den Rand des Hügels sahen, und auch das geschah bloß, wenn sie sie hoben. Wie zwei Schützen lagen sie nebeneinander auf dem Bauch, die vergessen haben, worauf sie lauern; und Agathe schlang nun, von der Nachgiebigkeit ihres Bruders gerührt, den Arm um seinen Nacken und machte auch ein Zugeständnis. «Sieh, was tut sie?» rief sie aus und wies mit der Fingerspitze neben sein Ästlein auf eine Ameise, die dort eine andere überfallen hatte.
«Sie tötet» versicherte Ulrich kalt.
«Verhindere es!» bat Agathe und erhob ein Bein vor Aufregung gegen den Himmel, so daß es auf dem Knie kopfstand.
Ulrich schlug vor: «Versuche es doch als Gleichnis aufzunehmen. Du brauchst ihm in Eile nicht einmal eine besondere Bedeutung geben zu können, nimm ihm bloß die seine! Dann wird es wie ein herber Lufthauch oder der Schwefelgeruch faulenden Laubes im Herbst: irgendein verdunstender Tropfen Schwermut, der die Auflösungsbereitschaft der Seele erzittern macht. Ich könnte mir denken, daß man damit sogar über seinen eigenen Tod freundlich hinwegkäme, aber freilich nur, weil man bloß einmal stirbt und es dann besonders wichtig nimmt; denn vor dem dauernden kleinen Durcheinander der Natur und ihrer Mißhelligkeiten ist der Verstand der Heiligen und Helden ziemlich ruhmlos!»
Agathe hatte ihm, während er so sprach, das Hölzchen aus den Fingern genommen und damit die angegriffene Ameise zu retten versucht, mit dem Erfolg, daß sie beide beinahe zerquetschte, aber schließlich auseinanderbrachte. Nun krochen sie in verminderter Lebendigkeit neuen Abenteuern entgegen.
«Hat es Sinn gehabt?» fragte Ulrich.
«Ich verstehe, daß du damit sagen willst, was wir am Gitter versucht hätten, sei gegen Natur und Verstand gewesen» gab Agathe zur Antwort.
«Warum sollte ich es nicht sagen!» meinte Ulrich. «Immerhin habe ich zu deiner Überraschung sagen wollen, die Herrlichkeit Gottes zuckt nicht mit der Wimper, wenn Unheil geschieht. Vielleicht auch: das Leben schluckt Leichen und Unrat, ohne daß sich sein Lächeln trübt. Und sicher dies: der Mensch ist reizend, solange man keine moralischen Anforderungen an ihn stellt ...» Ulrich dehnte sich verantwortungslos in der Sonne. Denn sie brauchten ihre Stellung bloß ein wenig zu verändern, und nicht einmal aufzustehen, so verschwand die Welt, die sie belauscht hatten, und wurde von einer großen, von säuselndem Gebüsch begrenzten Wiese ersetzt, die sich in sanftem Abfall bis zu ihrem schönen, alten Hause erstreckte und im vollen Sommerlicht dalag. Sie hatten die Ameisen aufgegeben und brieten sich an den Spitzen der Sonnenstrahlen, halb bewußtlos davon und von einem kühlenden Wind zeitweilig begossen. «Die Sonne scheint auf Gerechte und Ungerechte!» sprach Ulrich in friedfertigem Spott den Segen darüber.
«‹Liebet eure Feinde, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten› heißt es» widersprach ihm Agathe so leise, als vertraue sie es bloß der Luft an.
«Wirklich? Wie ich es sage, wäre es wunderbar natürlich!»
«Aber du sagst es falsch.»
«Bist du sicher? Wo steht es überhaupt?»
«In der Bibel natürlich. Ich werde im Hause nachschlagen! Ich will dir wohl einmal zeigen, daß ich auch recht haben kann!»
Er wollte sie zurückhalten, aber da stand sie schon neben ihm und eilte davon. Ulrich schloß die Augen, dann öffnete und schloß er sie wieder. Die Einsamkeit ohne Agathe war von allem verlassen; als wäre er selbst nicht darin. Dann kehrten die Schritte wieder. Große Schallstapfen in der Stille wie in weichem Schnee. Dann stellte sich das unbeschreibliche Gefühl der Nähe ein und zuletzt füllte sich die Nähe mit einem fröhlichen Lachen, das die Worte einleitete: «Es heißt: ‹Liebet eure Feinde, denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte›!»
«Und wo kommt es vor?»
«Nirgendwo als in der Bergpredigt, die du so gut zu kennen scheinst, mein Lieber.»
«Ich fühle mich als schlechten Theologen bloßgestellt» gab Ulrich lachend zu und bat: «Lies vor!»
Und Agathe
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