Gesammelte Werke
hatte eine schwere Bibel in Händen, kein besonders altes oder kostbares Ding, aber immerhin eine nicht ganz neue Ausgabe, und las vor: «Ihr habt gehört, daß gesagt ist: du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: liebet eure Feinde, tut wohl denen, so euch beleidigen und verfolgen. Auf daß ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel. Denn er läßt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und läßt regnen über Gerechte und Ungerechte.»
«Weißt du vielleicht noch etwas?» bat Ulrich wißbegierig.
«Ja» fuhr Agathe fort. «Es steht geschrieben: ‹Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: du sollst nicht töten; wer aber tötet, der soll des Gerichts schuldig sein. Ich aber sage euch: wer mit seinem Bruder zürnet, der ist des Gerichts schuldig; wer aber sagt: du Narr, der ist des höllischen Feuers schuldige›. Und dann doch auch dies, was du so gut weißt: ‹Ich aber sage euch, daß ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern so dir jemand einen Streich gibt auf deinen rechten Backen, dem biete den andern auch dar. Und so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem laß auch den Mantel. Und so dich jemand nötiget eine Meile, so gehe mit ihm zwei.›»
«Ich weiß nicht, mir gefällt es nicht!» meinte Ulrich.
Agathe blätterte. «Vielleicht gefällt dir das: ‹Ärgert dich deine rechte Hand, so haue sie ab und wirf sie von dir. Es ist dir besser, daß eines deiner Glieder verderbe, und nicht der ganze Leib in die Hölle geworfen werde.›»
Ulrich nahm ihr das Buch ab und blätterte selbst darin. «Das hat sogar mehrere Spielarten» rief er aus. Dann legte er das Buch ins Gras, zog sie neben sich und sagte eine Weile nichts. Endlich erwiderte er: «Im Ernst gesprochen, ich bin wie jedermann, oder zumindest wie jedem Mann ist es mir natürlich, diese Sprüche verkehrt anzuwenden. Ärgert dich seine Hand, so haue sie ab, und so du einen auf die Backe geschlagen hast, gib ihm vorsichtshalber auch noch einen Herzhaken.»
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59
Versuche, ein Scheusal zu lieben
[Variante zu: Sonderaufgabe eines Gartengitters Aus einem Entwurf]
Ein andermal fragte aber Agathe: «Mit welchem Recht darfst du denn gleich von einem ‹Weltbild› oder gar von einer ‹Welt› der Liebe sprechen? Von der Liebe ‹als dem Leben selbst›? Du bist leichtsinnig, mein Lieber!» Es war ihr zumute wie Schaukeln auf einem hohen Ast, der unter dieser Bemühung jeden Augenblick abzubrechen droht; doch fragte sie weiter: «Könnte man dann, wenn von einem Weltbild der Liebe, am Ende nicht auch von einem des Zornes, des Neides, des Stolzes, der Härte sprechen?»
«Alle anderen Gefühle dauern kürzer» erwiderte Ulrich. «Sie erheben auch nicht einmal den Anspruch, ewig zu währen.»
«Findest du es aber nicht ein wenig komisch von der Liebe, daß sie diesen Anspruch erhebt?» fragte Agathe.
Ulrich entgegnete: «Ich glaube, man könnte wohl davon sprechen, daß es auch anderen Gefühlen möglich sein müßte, eigentümliche Weltbilder zu gestalten, sozusagen einseitige oder einfarbige Welten; aber es ist immer so gewesen, daß der Liebe darin ein unklarer Vorzug und ein besonderer Anspruch auf weltgestaltende Kraft zugestanden worden ist ––– Die allgemeine Roheit ist heute unerträglich. Aber weil sie es ist, muß auch die Güte falsch sein! Die beiden hängen ja nicht wie auf einer Waage zusammen, wo ein Zuviel auf der einen Seite einem Zuwenig auf der anderen gleich ist, sondern hängen zusammen wie zwei Teile eines Körpers, die miteinander krank und gesund sind. Nichts ist also irriger,» fuhr er fort «als sich einzubilden, wie es allgemein geschieht, daß an dem Überhandnehmen böser Gesinnung ein Mangel an guter schuld sei: im Gegenteil, das Böse wächst offenbar durch das Wachsen einer falschen Güte!»
«Das haben wir schon oft gehört» erwiderte Agathe mit angenehm trockenem Spott. «Aber es ist scheinbar nicht einfach, auf die gute Weise gut zu sein!»
«Nein, es ist nicht einfach zu lieben!» wiederholte Ulrich lachend.
Sie lagen und sahen in die blaue Sonnenhöhe; dann wieder durch das Gitter auf die Straße, die sich vor den vom Sommerhimmel geblendeten Augen in einem dunstig erregten Grau wälzte. Stille senkte sich herab. Langsam wandelte sich das im Gespräch gehoben gewesene Selbstgefühl in Entmächtigung, ja Entführung des Ich. Ulrich erzählte leise: «Ich habe das großartig flunkernde Begriffspaar ‹egozentrisch und
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